Merkels Tochter. Sonderausgabe.
paar Sekunden kehrte nebenan Stille ein.
Um eins stellte Ulla Fendrich fest, dass sie keine Lust hatte, in die Stadt zu fahren. Bei der Hitze konnte man nur faul herumliegen und darauf warten, dass Irene ihren Sohn zum Mittagsschlaf hinlegte und zum Supermarkt fuhr. Sie war bestimmt bereit, ein Päckchen Zigaretten mitzubringen.
Bis Viertel nach zwei wartete Ulla Fendrich auf das Klappen des Garagentors nebenan. Es blieb still. Und sie schlief wieder ein, bis der kleine Patrick pünktlich um drei erneut zu schreien begann. Als er nicht wie sonst nach zwei Minuten damit aufhörte, auch nach fünf Minuten noch brüllte, als würde ihm bei lebendigem Leib die Haut abgezogen, nahm Ulla Fendrich an, Irenes Abfahrt zum Supermarkt verpasst zu haben.
Sie ging bis zum Gartenzaun. Auf dem Trockenständer nebenan hingen immer noch die Hemden. Wie den gesamten Vormittag stand die Terrassentür offen. Und bei allem Vertrauen in die Menschheit, nicht mal Irene ließ die Tür auf, wenn außer ihrem Sohn niemand im Haus war. Nach Irene zu rufen verkniff sie sich. Wenn Patrick
so brüllte, konnte seine Mutter nicht in der Nähe sein. Aber vielleicht war der Irokese noch da. Normalerweise ging er immer erst um halb vier. Vielleicht hatte Irene ihn zum Aufpassen verdonnert.
Ulla Fendrich ging nach vorne zur Straße, am Nachbargrundstück vorbei zum dritten Haus, in der Hoffnung, die hysterische Ziege sei daheim und bereit, mit ihr zu gehen. In Begleitung hätte sie es riskiert, bei Irene zu klingeln auf die Gefahr hin, dass der Irokese an die Tür kam. Aber ihre Hoffnung erfüllte sich nicht. Patrick brüllte weiter wie am Spieß, in dem doppelstöckigen Haus rührte sich nichts. Irenes Garagentor war unten. Ob ihr Auto in der Garage stand, konnte Ulla Fendrich nicht feststellen.
Sie überlegte, ob sie etwas unternehmen müsse, vielleicht zur nächsten Baustelle gehen und einen der Arbeiter zu Hilfe holen. Aber da waren auch ein paar Typen dabei, denen sie einiges zutraute, nur nichts Gutes. Und für zehn Minuten Babygeschrei rief man noch nicht die Polizei oder das Jugendamt, vor allem dann nicht, wenn man vermutete, dass das Kind gar nicht allein im Haus war. Sie kehrte zurück in ihren Bungalow, bezog Posten am Küchenfenster und registrierte einige Minuten später mit einer gewissen Erleichterung die Ankunft des nächsten Besuchers.
15. Kapitel
Merkel schaffte es an dem Mittwoch nicht, pünktlich um drei vor der Tür seiner Tochter zu stehen. Er kam etwa zwanzig Minuten später. Dass Irene ihm öffnete, noch bevor er sich bemerkbar gemacht hatte, erwartete er gar nicht oder nur sehr flüchtig. Wenn sie nicht in der Küche war, konnte sie ihn auch nicht durchs Fenster kommen sehen.
Während er sein Rad an den Zaun lehnte, hörte er irgendwo im Haus das Kind schreien. Er klingelte mehrfach, war aber nicht sicher, ob sie es hörte bei dem Gebrüll. Nichts rührte sich, er wurde ärgerlich, hatte ihr schließlich gesagt, wann er käme und dass er sich nicht lange aufhalten könne. Warum, verdammt noch mal, beruhigte sie den Bengel nicht, nahm ihn auf den Arm und kam endlich an die Tür?
Nebenan ging die Haustür. Die Fendrich schaute unsicher zu ihm hin und rief: «Ich glaube, Irene ist nicht da! Der Kleine schreit sich seit über einer Viertelstunde die Lunge aus dem Leib. Sie wollte noch Einkäufe machen, hat sie heute Morgen gesagt. Aber es müsste jemand im Haus sein, ein junger Mann, er ist um halb zwölf gekommen und wird wohl nicht mit dem Kind fertig.»
Von den schnellen Besorgungen nach Mittag wusste Merkel auch. Doch dann kaufte Irene nur das Allernötigste im nächsten Supermarkt. Das dauerte keine halbe Stunde. Und wenn ein junger Mann im Haus war, es konnte sich nur um Ziriak handeln, warum kam der nicht an die Tür?
«Habe ich ihm tüchtig den Kopf zurechtgesetzt», sagte sie in seinem Hinterkopf. Etwas kroch ihm kalt über den Schädel und zog ihm die Kopfhaut zusammen. Er versuchte, es zu ignorieren.
«Ich habe mir schon überlegt, ob ich mal rübergehe», sagte Ulla Fendrich. «Hinten ist offen. Aber man geht ja nicht gerne als Fremde in ein Haus.»
Nach langen Überlegungen sah sie für Merkel nicht aus. Und er war auch ein Fremder, gewissermaßen. Wenn ihm niemand öffnete, war garantiert auch niemand da – außer dem Kleinen.
Ulla Fendrich kämpfte mit sich, ob sie ihn über den Trampelpfad zum Garten schicken oder es riskieren sollte, ihn durch ihren Bungalow zu lotsen, einen Mörder! So einer hatte
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