Merkels Tochter. Sonderausgabe.
in Uniform, beide noch so jung, dass er sich fragte, ob sie heutzutage den Nachwuchs direkt von der Schulbank rekrutierten. Der Mann war ein Milchgesicht, groß und blond und rosig. Die Frau war erheblich kleiner und dunkelhaarig. Zusammen mit Ulla Fendrich kamen sie über die Terrasse ins Haus. Ulla Fendrich blieb im Wohnzimmer zurück, die beiden Uniformierten kamen zu ihm in die Diele. Der Polizist warf einen Blick in die Küche und wurde ganz blass. Merkel hörte ihn trotz des Gebrülls an seinem Ohr flüstern: «Mein Gott!»
Die Frau schien die besseren Nerven und auch mehr Erfahrung zu haben, obwohl sie dem Anschein nach jünger war als ihr Kollege. Sie zog Handschuhe über und ging hinauf, nachdem Merkel ihr das Zimmer bezeichnet hatte, in dem Irene lag. Lange blieb sie nicht. Als sie zurückkam, war sie ebenfalls blass, ging durch die Haustür hinaus zum Wagen und informierte die Zentrale über Funk. Ihr Kollege blieb bei Merkel in der Diele stehen. Demonstrativ mit dem Rücken zur Küchentür betrachtete er das Kind auf Merkels Arm mit einem gequälten Blick.
«Ist das Baby verletzt?», wollte er wissen.
«Sieht nicht so aus», sagte Merkel.
«Warum schreit es denn so?»
«Tut es immer, wenn es seine Mutter nicht sieht», sagte
Merkel.
«Können Sie es nicht beruhigen?»
«Nein», sagte Merkel. «Das konnte nur seine Mutter.» Die Polizistin kam wieder ins Haus und verlangte, sie
sollten alle hinübergehen in den Bungalow. Ulla Fendrich setzte sich sofort in Bewegung, kam in die Diele und wollte zur Haustür hinaus, stockte jedoch, als Merkel sagte: «Mädchen, ich war schon bei dem Verein, als du noch mit deinem Vater auf Bäume geklettert bist. Ich bleib hier, bis die Kollegen da sind.»
Dann standen sie da, zu viert in der Diele, genau genommen zu fünft. Und drei von ihnen starrten auf das immer noch schreiende Baby. Merkel schaute die Wände an und zählte die Streifen, ihr Blut. Sein Arm wurde lahm, er war schwer, der Bursche, und er blieb ja nicht still sitzen, hampelte und zappelte herum, bog den Rücken durch und machte sich ganz steif. Merkel hatte Mühe, ihn zu halten. Ein paar Mal verschluckte er sich an seinem Speichel, hustete und prustete ihm dabei ins Gesicht, brüllte dann mit unverminderter Energie weiter.
Ulla Fendrich streckte zögernd die Hand aus und strich dem Jungen über den Rücken, flüsterte dabei: «Ist ja gut, Patrick. Ist ja gut. Sei still, um Gottes willen.» Und anschließend erkundigte sie sich: «Wovon ist er denn so nass?» Als ob das in irgendeiner Weise wichtig gewesen wäre. «Er hat doch eine Windel an.»
«Er schwitzt halt», sagte Merkel unwirsch, «tun wir doch alle.»
«Sie sollten sich hinsetzen», empfahl die Polizistin und zeigte ins Wohnzimmer.
Merkel wäre es lieber gewesen, sie hätte ihm das Kind abgenommen. Aber da sie keine Anstalten machte, ging er hinüber und setzte sich auf die Couch. Er wippte den Jungen ganz mechanisch auf den Knien, hielt ihn dabei mit beiden Händen unter den Achseln und begann wie in Trance, ihm das Lied vorzusingen. «Kommt ein Vogel geflogen, setzt sich nieder auf mein Fuß, hat ein Zettel im Schnabel, von der Mutter einen Gruß.» Das Geschrei wurde schwächer, ging über in ein heftiges Schluchzen, der kleine Körper wurde gehörig durchgeschüttelt. Das registrierte Merkel am Rande, er registrierte auch noch anderes.
Direkt neben seinen Schuhen lagen ein paar Dreckröllchen auf dem Teppich. Sie hatten die Form von gebogenen Stäbchen, stammten vermutlich aus den Rillen irgendwelcher Schuhsohlen. Auf der Tischplatte bemerkte er winzige Krümel wie von einem Radiergummi. In seinem Hinterkopf erzählte Irene von Ziriaks Bemühungen um den Führerschein und seinen Versuchen, bei den Antworten für die theoretische Prüfung zu schummeln.
Die Fragebogen wurden mit Bleistift aufgefüllt, und man durfte den Stift nicht fest aufdrücken. Aber das hatte Ziriak getan, damit er die angekreuzten Antworten noch erkennen konnte, nachdem er sie wieder ausradiert hatte. Auf die Weise hatte er zu Anfang immer aufs Neue die falschen Antworten angekreuzt. Dämlicher Hund, merkte nicht mal, wenn er sich selbst austrickste.
Dass Ziriak als Letzter bei ihr gewesen sein musste, stand für Merkel außer Zweifel. Und es passte zu Ziriak, sie da oben aufs Bett zu legen, ihr die Nelken in die Hand zu drücken. Ein Gemüt wie ein Kind, hatte sie gesagt. Aber Kinder richteten nicht solche Blutbäder an.
17. Kapitel
In der nächsten halben Stunde
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