Merlin und die Fluegel der Freiheit
als der Feuerball. »Erzähl mir, was es ist, junger Falke.«
Unsicher, was ich sagen, ob ich überhaupt antworten sollte, setzte ich mich auf. Verlegen scharrte ich mit den Füßen auf der
rauen Oberfläche des Sternguckersteins. Die frische Morgenluft kam in leichten Böen und ließ den Wald ringsum knarren und
rauschen. Mir war, als säßen wir auf einer Insel inmitten einer wogenden See und die Wellen könnten jeden Moment steigen und
uns überspülen.
»Etwas beunruhigt dich«, fuhr Hallia fort. »Mehr als das, was du gesagt hast. Geht es . . . um uns?«
»N-nein, nicht um uns.«
»Dann sag es mir. Was ist es?«
Ich zwang mich zu schlucken. »Es wird dich beunruhigen.«
»Es wird mich mehr beunruhigen, wenn ich sehe, wie du innerlich leidest.« Ihre braunen, stets liebevollen Augen beobachteten
mich. »Wenn es dir hilft, mit mir darüber zu reden, dann tu es. Bitte.«
Ich holte Luft. »Nun gut.« Ich schaute hinauf zum grauen, bewölkten Himmel. »Vergangene Nacht hatte ich eine Vision. Ein Gesicht
in den Wolken. Es war . . .«
Ein plötzliches Poltern aus der Ferne unterbrach mich. Ich horchte, während es ständig anschwoll wie ein rasch nahendes Gewitter.
Im Gegensatz zu dem Grollen in dervergangenen Nacht, das mich zu Dagda gerufen hatte, war dieses Geräusch ohne alle Zwischentöne. Es polterte einfach. Nach
kurzer Zeit begann der Fels unter uns zu beben, er vibrierte in dem unaufhörlichen Rhythmus. Hallia drückte meinen Arm, während
die Bäume am Fuß des Hügels gefährlich zu schwanken begannen. Ein mächtiger Ast brach von einer alten kahlen Ulme und krachte
nahe der Stelle, an der wir vor kurzem geschlafen hatten, auf den Boden.
Ich packte meinen Stock, damit er nicht über den Rand des Steins rutschte. Das Poltern erschütterte den Hang mit jeder Sekunde
heftiger. Hallia sah aus, als würde sie am liebsten davonstieben, zum Hirsch werden und in den Wald stürmen. Aber ich schüttelte
den Kopf und hielt sie zurück. Schließlich hatte ich dieses Geräusch schon viele Male zuvor gehört. Dieser Krach hatte Fincayra
schon vor Menschengedenken unzählige Jahrhunderte lang erschüttert.
Es waren die Schritte eines Riesen.
Aus dem nebelverhangenen Wald tauchte allmählich eine Gestalt auf. Wie ein wandelnder Hügel erhob sie sich zwischen den Bäumen.
Mit der Zeit konnte ich die struppigen Haare des Riesen ausmachen, die enormen Schultern und langen Arme, auch wenn ich seine
Gesichtszüge noch nicht erkennen konnte. Das Poltern schwoll ständig an. Jetzt sah ich genug, um sicher zu sein, dass es ein
Mann war, der eine bauschige gelbe Weste und weite braune Leggings trug, wie sie bei den Einwohnern von Varigal üblich waren.
Er stapfte durch den Wald auf uns zu, wie ein Mensch durch ein Weizenfeld gehen würde.
Schließlich sah ich seine Augen, groß und rosarot. Und einen höhlenartigen Mund voll krummer Zähne. Darüberhing eine Nase, die hervorquoll wie eine geschwollene Kartoffel – eine Nase, die ich nur zu gut kannte.
»Es ist alles in Ordnung«, versicherte ich Hallia und fasste sie an der Schulter. »Das ist mein Freund Shim.«
»Junger Falke, was war mit dieser Vision?«
»Ich werde dir alles erzählen, das verspreche ich dir.«
Nach ein paar weiteren gigantischen Schritten erreichte Shim den Fuß des Hügels. Mit seiner riesigen Hand bog er eine Tanne
zur Seite und trat aus dem Wald. Als er den Baum losließ, prasselten Zapfen und Nadeln durch die Zweige. Shim machte noch
einen Schritt, setzte seinen massigen Fuß auf den Hang und brachte durch sein Gewicht den Sternguckerstein ins Rutschen. Mein
Stock rollte wieder davon, aber ich packte ihn gerade noch rechtzeitig. Endlich blieb der Riese stehen und der Hügel kam zur
Ruhe.
Vorsichtig standen Hallia und ich auf. Jetzt befanden wir uns direkt vor der Spitze von Shims Knollennase. »Gut getroffen,
alter Freund«, erklärte ich und schwankte in den warmen Luftstößen aus seinen Nasenlöchern. »Schön, dass du uns oben auf diesem
Hügel antriffst, so können wir dir doch ins Gesicht sehen statt zu deinen haarigen Zehen aufzuschauen.«
Zu meiner Überraschung lachte er nicht über den Scherz. Er grinste noch nicht einmal. Stattdessen verzog sich das ganze Gesicht
zu einer untypisch finsteren Miene. Er blinzelte und hätte dabei Hallia fast mit Wimpern gestreift, die so groß wie Eichenschösslinge
waren. Dann bellte er heiser:
»Dieses eine Mal sein ich nicht froh dich zu sehen,
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