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Merlin und die Fluegel der Freiheit

Merlin und die Fluegel der Freiheit

Titel: Merlin und die Fluegel der Freiheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas A. Barron
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das war die Art Menge, die sich versammelte, um einen Verletzten zu begaffen – oder Schlimmeres. Ionns kräftiger Hals schob
     die Menschen zur Seite und bahnte uns einen Pfad. Doch in meinen Schläfen pochte das Blut. Kamen wir schon zu spät?
    Endlich hatten Rhia und ich uns durchgedrängt. Erleichtert sah ich unsere Mutter auf den Brettern bei der Bühnenmitte knien.
     Das lange Haar, strahlend wie die Sonne, fiel über ihre Schultern und ihr dunkelblaues Gewand. Sie beugte sich tief über etwas,
     das sie aufmerksam betrachtete – so aufmerksam, dass sie auch dann nicht aufschaute, als ich ihren Namen rief.
    Dann sah ich, was sie so in Anspruch nahm. Ein Junge in einer zerfetzten Tunika lag auf den Brettern neben ihr. Er zitterte
     und hatte die Augen geöffnet. Elen tupfte mit einem Tuch eine Seite seines Gesichts ab, offenbar versuchte sie eine Wunde
     zu reinigen. Ich roch Zitronenbalsam, ein sicheres Anzeichen dafür, dass sie seine Schmerzen lindern wollte. Als sie die Hand
     hob, um nach einer Schüssel mit Kräutern zu greifen, verkrampfte ich mich. Denn so etwas wie die Wunde dieses Jungen hatte
     ich noch nie gesehen.
    Sein Ohr war weg – vollständig abgeschnitten. Nichts als ein schwarzer Hautrest war übrig geblieben.
    »Mutter!« Rhia drängte sich an mir vorbei.
    Elen drehte sich nach uns um, ihre saphirblauen Augen strahlten nicht wie sonst. »Meine Kinder.« Sie legte das Tuch weg, streckte
     jedem von uns eine Hand entgegen und zog uns näher. Sie beugte sich vor, küsste uns auf die Stirn und betrachtete uns dann
     ernst. »Ich habe schlechte Nachrichten für euch.«
    »Genau wie wir«, sagte ich, »für dich.«
    »Wie könnte etwas schlimmer sein als das, was ich gesehen habe, aber nicht heilen kann?« Sie nahm das Tuch wieder auf, tauchte
     es in eine Schüssel mit Wasser und Kräutern und machte sich erneut an die Arbeit. Der Junge zuckte bei ihrer Berührung zusammen,
     gab aber keinen Laut von sich bis auf sein stoßweises Atmen. Ohne aufzuschauen fuhr Elen fort: »Dieser liebe Junge wurde ohne
     ersichtlichen Grund an einem Bergsee nicht weit von hier angegriffen.«
    »Sein Ohr . . .«, fing ich an.
    »Wurde abgehauen.« Elen zitterte jetzt auch. »Ein Bauer, der seine Kuh zur Tränke brachte, war Zeuge, aber er kam zu spät,
     um dem armen Jungen zu helfen.«
    Ich ballte die Hand zur Faust, bestimmt war dies das neueste Beispiel von Stangmars Grausamkeit. »Wie konnte er etwas so Ungeheuerliches
     tun?«
    »Weil er genau das ist: ein Ungeheuer.« Ihr Gesicht verzerrte sich vor Zorn. »Ein unschuldiges Kind so zu misshandeln!«
    Ich atmete hörbar ein. »Es hätte dich treffen können, Mutter.«
    Sie fuhr zusammen und ließ das Tuch fallen. »Was?«
    Ich nickte grimmig. »Als er aus dem Gefängnis floh, sagte er, dass er dich suchen wollte.«
    »Mich?«
    »Ja, dich. Und er hat zwei Gefängniswärter getötet, die versuchten ihn aufzuhalten.«
    Sie starrte mich entsetzt an. »Getötet?«
    »Mit bloßen Händen.«
    Sie beruhigte sich etwas. »Dann hat der, von dem du redest, diesen Jungen nicht angegriffen.«
    »Was soll das heißen?«
    »Der Bauer«, erklärte sie, »hat gesagt, es war ein Krieger, ein riesiger Mann.«
    »Ja! Das ist . . .«
    »Warte. Lass mich ausreden. Er sagte, es war ein Krieger . . .«, verwirrt hielt sie inne. »Ohne Hände. An seinen Schultern
     waren Schwertklingen befestigt. Schwertklingen – statt Arme.«
    Ich schüttelte ungläubig den Kopf. Stangmar war also nicht für dieses Verbrechen verantwortlich? Wer dann? Plötzlich erinnerte
     ich mich an meinen Traum vor der Vision von Dagda. Ein Krieger mit Schwertern statt Armen! Mir schwirrte der Kopf. Rhita Gawrs
     Komplott. Stangmars Flucht. Und jetzt das.
    »Aber warum?« Rhia beugte sich über den Jungen. »Es ist so unglaublich grausam.«
    Unsere Mutter fuhr sich mit der Hand durch das glänzende Haar. »Das weiß niemand. Der Krieger, wer immer er war, zog weiter
     in die östlichen Ebenen. Er hat nicht versucht den Bauern anzugreifen, hat den Jungen einfach in seinem Blut liegen lassen.«
    Ich betrachtete die Wunde und verzog das Gesicht. »Wo ist seine Familie?«
    »Er hat keine.« Sie legte das Tuch weg, griff nach einem Streifen Moos, der in Zitronenbalsam getaucht worden war, und steckte
     ihn dem Verletzten in den Mund. »Kau das, mein Junge, aber schluck es nicht«, flüsterte sie. Dann erklärte sie mir: »Er ist
     ein Waisenkind.«
    Die Worte trafen mich wie ein Hammerschlag.
Waisenkind.
All die

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