Merlin und die Fluegel der Freiheit
angefangen. Wer weiß schon, woran es liegt? Vielleicht
findest du eine andere Methode – ein neues Wort oder einen Ton, die alles ändern.«
Ihre Mundwinkel hoben sich leicht. »Glaubst du wirklich?«
»Es ist möglich, weißt du.«
Sie bog den Kopf zurück und schaute hinauf in das Zweiggewölbe der Eiche. »Vielleicht, vielleicht auch nicht.«
In diesem Moment flackerte ein winziger Lichtfleck, nicht größer als ein Apfelkern, in einer Kerbe der Eichenrinde. Er flog
hell blinkend heraus und summte in der Luft. Eine Leuchtfliege! Ich hatte zuvor nur eines dieser zarten Geschöpfe gesehen
und nie seine Schönheit vergessen.
Der leuchtende Fleck kreiste einmal um unsere Köpfe, dann flatterte er auf mich zu. Ich hielt den Atem an, als er so leicht
wie ein Stäubchen auf meiner Nasenspitze landete. Dort blieb er ein paar Sekunden, leise schwirrten seine Flügel. Ich wurde
das Gefühl nicht los, dass der schimmernde kleine Kerl mich aufmerksam betrachtete. Dann flog er mit einem neuen Lichtblitz
hoch, erreichte einen Luftzug und verschwand zwischen den Bäumen.
Rhia, die den Abflug beobachtete, imitierte das Summenseiner Flügel. »Er erinnert mich an eine Sternschnuppe, ist aber so viel kleiner.« Sie grinste. »Und deine spitze Nase hat
ihm wirklich gefallen.«
Sanft berührte ich den Fleck, auf dem sich das Geschöpf so kurz niedergelassen hatte. »Vielleicht . . . haben wir gerade unseren
ersten Verbündeten gewonnen.«
Sie grinste fast. »Es ist möglich, weißt du.«
Plötzlich schnaubte Ionn. Der Hengst, der bei einigen Weidentrieben am Bach gegrast hatte, hob den Kopf und schaute in die
dunkle Ebene. Ich folgte seinem Blick und sah eine aufrechte Gestalt aus den Schatten treten.
Ich sprang auf die Füße und sah noch aufmerksamer hin. Das konnte nicht sein! Doch als die Gestalt mit schnellen Schritten
näher kam, wusste ich, dass sie tatsächlich die Person war, die sie zu sein schien. Die Person, die ich am wenigsten in dieser
Nacht an diesem Ort erwartete.
»Lleu«, sagte ich überrascht, als der Junge auf uns zulief. Am Bachrand blieb er keuchend stehen. Er kniete sich hin, tauchte
das ganze Gesicht ins Wasser, trank mehrere Schlucke und stand wieder auf. Dann wischte er sich das tropfende Kinn und die
Wangen mit dem Ärmel ab, wobei er darauf achtete, den Stummel seines fehlenden Ohrs nicht zu berühren.
Bewundernd fragte ich: »Bist du . . . hergelaufen? Uns gefolgt?«
Er nickte und sprühte ein paar Tropfen auf den Wollschal, den ich ihm vergangene Nacht gegeben hatte und der jetzt um seinen
Hals lag. »Klar bin ich euch gefolgt«, sagte er nüchtern, als wäre ein tagelanger Lauf nichts Ungewöhnliches.
Ich schaute hinüber zu Rhia, die ein ungläubiges Gesicht machte. Langsam kniete ich mich nieder, so dass sich Lleusund mein Gesicht fast berührten. »Sag mir, Junge«, flüsterte ich, »warum?«
Er zog an dem Schal. »Der gehört dir. Und du warst am Morgen weg, bevor ich ihn dir zurückgeben konnte.«
Ich musste lächeln. »Nein, Lleu. Ich habe ihn zurückgelassen, weil ich ihn dir geschenkt habe, genau wie mein Freund ihn mir
geschenkt hat.« Sicher lagen seine wahren Gründe tiefer, auch wenn er sich gesagt hatte, er müsse versuchen den Schal zurückzugeben.
Warum fühlte er sich so zu mir hingezogen? Wusste er durch irgendeinen Instinkt, dass meine und seine Kindheit gar nicht so
verschieden waren?
Sanft klopfte ich ihm auf die Schulter. »Wie fühlt sich dieses Ohr an?«
Er zuckte zusammen, als ich seine Wunde erwähnte. Dann straffte er die Schultern und antwortete. »Nicht zu schlimm, junger
Herr. Es tut immer noch weh und ich kann es nicht anfassen, aber ich höre gut.« Er runzelte finster die Stirn. »Schlimmer
ist der Traum von letzter Nacht.« Er schauderte und sah kurz weg. »Aber du hast mir geholfen drüber wegzukommen.«
»Tatsächlich warst du es, wie ich mich erinnere, der mir geholfen hat. Und du kannst Merlin zu mir sagen.«
Seine Augen leuchteten sogar im düsteren Licht. Dann kniff er den kleinen Mund zusammen. »Ich habe andere rennen sehen, junger
Herr Merlin. Kinder, so wie ich. Sie sind schnell gerannt – weg von jemand oder etwas, da bin ich sicher. Keine Ahnung, vor
was, ich habe es nicht abgewartet.« Er schluckte. »Aber ich habe mich gefragt, ob es . . . vielleicht der . . .«
»Derselbe Angreifer ist?« Ich spürte seine Angst und biss mir auf die Lippe. »Nein, nein, das kann nicht sein.«
Er schaute
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