Merlin und die Fluegel der Freiheit
betrachtete mich mit ausdruckslosen Augen. »Niemand kannte seinen Namen. Er war ein Krieger, ein grässlicher Krieger
mit Schwertklingen statt Armen.«
Rhia und ich atmeten hörbar ein. Der Ältere schien es nicht zu bemerken und fuhr fort in einem Ton, der düster war wie das
Lied der Dorfbewohner: »Er versuchte ihr die Hand abzuschlagen, das wollte er. Ellyriannas Hand!« Er stieß einen langen, schmerzlichen
Seufzer aus. »Wir wollten sie retten, aber sie verblutete auf die schrecklichste Art.«
»Fürchterlich!«, stöhnte Rhia. »Wie konnte jemand ein so grässliches Verbrechen begehen? Noch dazu an einem Kind.«
»Solche grässlichen Verbrechen«, verbesserte ich und bohrte meinen Stock in die Erde. »Wer ist dieser Krieger? Und warum greift
er Waisen an?« Ich trat neben den Mann. »Hat er gesagt, wohin er als Nächstes geht?«
Er kniff die Augen beim Nachdenken zusammen, während Licht über sein faltiges Gesicht flackerte. »Er hat etwas über Caer Darloch
gesagt, das nächste Dorf im Norden. Ob er von dort kam oder dorthin ging, weiß ich nicht.«
»Und sagte er noch etwas?«
Langsam nickte der Alte. »Er sagte, dass der Tod dieses Mädchens nur der Anfang ist. Ja, der Anfang! Und dass noch viele Kinder
bald ihre Gliedmaßen verlieren – oder ihr Leben. Falls nicht . . .«
»Was?«
»Falls nicht der namens Merlin sich ihm allein zum Kampf stellt.«
XII
ENTSCHEIDUNG
B etäubt von der Nachtkälte und von den Neuigkeiten des Alten kehrten wir in unser Lager zurück. Als Erstes schaute ich nach
Lleu und stellte mit zufriedenem Seufzen fest, dass er auf dem Moos, wo wir ihn verlassen hatten, in tiefem Schlaf lag. Ich
sah den Schal neben ihm und wickelte ihn sorgfältig um seine nackten Füße. Rhia klapperte so mit den Zähnen, dass ich jede
Vorsicht außer Acht ließ und sie bat, uns mit ihrem Feuerball zu wärmen. Damit war sie dankbar einverstanden.
In den restlichen Nachtstunden saßen wir auf den knorrigen Wurzeln der krummen Eiche und besprachen, was wir tun sollten.
Die schattenhafte Gestalt des Baums hing im orangen Schein des Feuerballs über unseren Köpfen. Doch ein dunklerer Schatten
lag bedrohlich über allem: unsere schnell schwindende Zeit.
»Beim Blut von Dagda«, fluchte ich und schlug mit einem Stock auf den Baumstamm. »Wir hatten sowieso schon zu viel zu tun.
Und jetzt noch das!«
Rhia verlagerte ihr Gewicht auf der dicken Eichenwurzel. »Wer ist dieser schwertarmige Mörder?«, fragte sie vielleicht zum
zwanzigsten Mal. »Und warum Kinder – Waisenkinder?«
»Wurzel und Wetter, Rhia! Ich weiß es jetzt so wenig wie vor einer Stunde.«
Sie hob die Arme und streckte steif den Rücken. »Ich weiß, ich weiß, aber die Fragen kreisen in meinem Kopf.«Sie betrachtete mich über die prasselnden Flammen hinweg. »Und die seltsamste Frage ist, warum er es auf
dich
abgesehen hat.«
»Meinst du, das weiß ich nicht?«, fuhr ich sie verzweifelt an. »Es ist so rätselhaft wie sein Auftritt gerade jetzt, zu allem
anderen.«
Sie schaute mich weiter aufmerksam an. »Glaubst du – das klingt verrückt, ich weiß – es könnte etwas damit zu tun haben, dass
du dich früher selbst für eine Waise gehalten hast?«
»Wie denn?« Ich bog die Finger vor der glühenden Kugel, um sie wieder beweglich zu machen. »Nur weil ich in jenen Jahren nicht
wusste, das Elen unsere Mutter ist und Stangmar unser . . .« Ich schwieg, an dem Wort musste ich würgen. »Warum sollte er
nur deshalb mit diesen schrecklichen Verbrechen anfangen? Nein, nein, das macht keinen Sinn. Dieser Schwertarm, wer immer
er ist, hat einen tieferen Grund. Eine bedeutendere Absicht. Das spüre ich, Rhia.«
Plötzlich kam mir ein neuer Gedanke. »Hältst du es für möglich, dass er Teil der größeren Grausamkeit ist? Ein Teil von Rhita
Gawrs Plan?«
»Wie das?«
»Nun, vielleicht weiß Rhita Gawr, dass ich vor dem, was auf uns zukommt, gewarnt bin. Er könnte diesen Krieger geschickt haben,
um mich abzulenken, mich davon abzuhalten, ein Heer zu sammeln, das ihn abwehrt.«
Rhia zog die Augenbrauen hoch. »Wenn das sein Ziel ist, hat er bereits Erfolg. Die längste Nacht des Winters ist schon in
zwölf Tagen. Und wir haben gerade den größten Teil der Nacht über diese Sache geredet und nichts vorzuweisen.«
»Stimmt.« Ich knirschte mit den Zähnen. »Du hältst es aber auch für mehr als einen Zufall, dass Schwertarm gerade jetzt zuschlägt?«
»Sicher, das gebe ich zu.
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