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Merlin und die Fluegel der Freiheit

Merlin und die Fluegel der Freiheit

Titel: Merlin und die Fluegel der Freiheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas A. Barron
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berührte die Spitze. Als ich meinen Finger daran ritzte, spürte ich ein leichtes Ziehen zwischen den Schultern. Sofort
     begriff ich. Das waren Flügel gewesen! Und tatsächlich, als ich die Erde von den Seiten der Statue kratzte, fand ich mehrere
     ungleichmäßige Teile, mit anmutigen Federn verziert. Ich setzte einige zusammen undwusste jetzt mit Sicherheit, dass ich die Reste von Flügeln in den Händen hielt.
    Verlorene Flügel.
    Spontan packte ich die Statue an den Schultern und hob sie. Die Figur rollte herum und zerdrückte die Flügelteile unter sich.
     Als ich das Gesicht des Mannes sah, hielt ich den Atem an. Nicht weil er mich aus gefährlichen Augen unter strenger Stirn
     grimmig betrachtete, sondern weil ich das Gesicht erkannte. Das war Stangmar. Das Gesicht meines Vaters.
    Entsetzt betrachtete ich das Antlitz. War es nur ein Zufall, jemand, der ihm unheimlich glich? Oder war es einer seiner Vorfahren
     aus alter Zeit?
    Meiner
Vorfahren.
    Ich fiel auf die Knie. Mit zitternder Hand berührte ich das Kinn, das so sehr meinem glich. Ich strich mit den Fingern über
     die schnabelähnliche Nase und die breite Stirn mit dem Mistelzweig. Das war, ich wusste es, das Gesicht meines Vorfahren.
     Meines Vaters. Mein Gesicht.
    Selbst die Haltung der Statue glich Stangmar so sehr. Ein Mann der Gegensätze! Er kannte keine Gnade für den, der sich ihm
     zu widersetzen wagte, doch er gab sein Leben für Elen. Er regierte mit Zorn und Schrecken, doch zuletzt zeigte er Empfindsamkeit.
     Er versuchte mich – seinen eigenen Sohn – zu töten und sehnte sich doch nach meiner Vergebung.
    Ich biss die Zähne zusammen. Nein, ich konnte ihm nicht verzeihen. Nicht nach allem, was er anderen angetan hatte. Elen. Den
     Bewohnern dieses Landes. Und mir.
    Wütend schlug ich mit der Faust an die Schulter der Statue, so dass die Figur von einer Seite zur anderen wankte. Der goldene
     Zweig fiel ab und landete mit einer Staubwolkeam Boden. Ich schaute finster hinunter auf den Mann, den ich in dieser Statue sah. Einen Mann, der mir mein Leben lang nichts
     gegeben hatte außer Schwermut im Herzen.
    Ein Mann, der dieses Land grausam regierte.
    Ein Mann, der das korrupte Werkzeug von Rhita Gawr wurde.
    Ein Mann, der jeden verletzte, der ihm zu nahe kam . . . vielleicht, weil er selbst verletzt war.
    Ein Mann, der von Wut auf seinen Vater beherrscht wurde – ein Gefühl, das ich nur zu gut kannte.
    Ein Mann, der, auch wie ich, immer einen nagenden Schmerz zwischen den Schultern spürte.
    Ein Mann, der bei all seinen Fehlern nie aufhörte Elen zu lieben.
    Ein Mann, der vielleicht auch mich geliebt hätte, wenn nur . . .
    Ich starrte die Statue an. Ein Mann, der mit dem Gesicht nach unten in den Schmutz fiel und doch noch eine strahlende Krone
     trug.
    Ich befeuchtete meine trockenen Lippen und dachte an seine letzten Worte für die Frau, die ihn liebte. Ich erinnerte mich
     an seinen hoffnungsvollen Blick, als er sich zum allerletzten Mal an mich wandte. Und die Bereitschaft des jungen Lleu fiel
     mir ein, den Rabauken, der ihn verletzen wollte, als einen zu sehen, der eine zweite Chance verdiente.
Wir sind hier alle zusammen,
hatte er gesagt.
    Sanft berührte ich die Stirn der Statue. Dann sagte ich so leise, dass es mehr ein Hauch als ein Flüstern war, einen einfachen
     Satz. »Mein Vater . . . ich verzeihe dir.«
    Nichts veränderte sich. Auf jeden Fall nichts, das man sehen oder berühren oder messen könnte. Und doch spürteich etwas Neues, ein seltsames Gefühl – irgendwie leichter zu sein. Es erfüllte mich, breitete sich in mir aus, floss durch
     jede Ader. Das Gefühl schien zerbrechlich, sogar flüchtig, doch ich wusste, dass es mir bleiben würde.

XXVII
GEFLOGEN UND GEFALLEN
    I ch saß auf dem verfallenen Hügel und hörte die Wellen an den Fuß der umgebenden Klippen schlagen. Dahinter verschmolzen Meer
     und Himmel zu einem einzigen blauen Streifen, der scheinbar ins Endlose reichte.
    Mit einem Mal fiel mir eine Bewegung an dem Mistelzweig auf, der neben mir im Schmutz lag. Ich schaute genauer hin und sah,
     dass die Bewegung nicht von dem goldenen Zweig kam, sondern aus dem Kreis, den er bildete. Ich hielt den Atem an – denn da,
     auf der nackten Erde innerhalb des Kreises, entstand ein Bild. Ein Bild mit kraftvollem Rot, Violett und Gelb, die schnell
     kreisten, ein blendender Farbenstrudel.
    Überrascht beugte ich mich tiefer. Plötzlich hörten die Farben auf zu wirbeln und begannen zu verschmelzen. Jetzt

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