Merlin und die sieben Schritte zur Weisheit
die Wiesen um sie herum zu streichen. Stämme wurden dicker, Wurzeln vervielfältigten sich. Die Bäume reckten
sich zum Himmel und schwenkten stolz ihre fruchtbehangenen Zweige. Zufrieden schaute ich mich um. Was in der dunklen Wiese
auch geschehen sein mochte, jetzt war es jedenfalls kein Problem mehr.
Plötzlich ertönte ein Schrei. Ein Junge mit nacktem Oberkörper, etwa so alt wie ich, fiel aus einem Baum. Er landete in einem
Bewässerungsgraben unter den Ästen. Wieder ein Schrei. Ich lief zum Graben.
Der Junge kletterte heraus, sein Haar und seine Haut waren so braun wie die Erde. Dann tauchte zu meiner Überraschung eine
weitere Gestalt auf, die wie ein älterer, breiterer Doppelgänger des Jungen aussah. Er war ein Mann der Scholle, ein Mann,
den ich wieder erkannte.
Weder er noch der Junge bemerkten mich im Schatten des Apfelbaums. Der Mann, auch er ohne Hemd, straffte den breiten Rücken
und fasste dann den Jungen an den Schultern. »Bist du verletzt, Sohn?«
Der Junge rieb seine angeschlagenen Rippen. »Nein.« Er lächelte scheu. »Du bist ein gutes Kissen.«
Der Mann musterte ihn belustigt. »Du fällst nicht oft vom Baum.«
»Es geschieht auch nicht oft, dass sich die Äste aufrichten und mich abschütteln! Und schau nur, Papa! Sie sind mit Äpfeln
beladen.«
Der Mann schnappte nach Luft. Wie der Junge starrte er mit offenem Mund auf den verwandelten Baum. Ich lächelte. Das war die
Reaktion, die ich mir von Rhia und den anderen erhofft hatte und die ich sicher von meiner Mutter erwarten konnte. Die Schönheit
und der Duft frischer Äpfel hatten sie immer entzückt.
»Das ist ein Wunder, Sohn! Ein Geschenk des großen Gottes Dagda!«
Ich trat aus dem Schatten. »Nein, Honn. Es ist ein Geschenk von mir.«
Der Mann zuckte zusammen. Er schaute von mir zum Baum über uns, dann zurück zu mir. Schließlich wandte er sich an seinen Sohn.
»Das ist er! Der Bursche, von dem ich dir erzählt habe.«
Der Junge riss die Augen auf. »Der den bösen König überwältigt hat? Der sich nach einem Falken nennt?«
»Merlin«, bestätigte ich und knuffte den Jungen an der Schulter. »Dein Vater hat mir einmal geholfen, als ich es dringend
nötig hatte.«
Honn fuhr sich mit der Hand durchs schmutzbespritzte Haar. »Du meine Güte, Junge. Bevor ich die Geschichten von deinem Erfolg
hörte, hatte ich dich schon dreimal für tot gehalten.«
Ich stützte mich auf meinen knorrigen Stock und grinste. »Aus gutem Grund. Wenn die praktische Klinge nicht gewesen wäre,
die du mir gegeben hast, wäre ich bestimmt schon dreimal tot.«
Honn rieb sich das kräftige Kinn und betrachtete mich einen Augenblick. Er trug nichts als weite braune Leggins. Seine Hände,
so zerschunden und schwielig sie auch waren, sahen so mächtig wie Baumwurzeln aus.
»Ich bin froh, dass sich der alte Degen als nützlich erwiesen hat, mein Junge. Wo ist er jetzt?«
»Irgendwo in den Ruinen des verhüllten Schlosses. Ich habe einen Guhl verfehlt, einen von Stangmars unverwundbaren Soldaten.
Aber der Degen hat mir ein paar kostbare Sekunden verschafft.«
»Darüber bin ich froh.« Sein Blick wanderte zu dem magischen Instrument. »Wie ich sehe, hast du die blühende Harfe gefunden.«
Er stieß den Jungen an. »Siehst du, mein Sohn, es war tatsächlich ein Wunder! Kein Sterblicher, noch nicht einmal ein so begabter
wie der junge Falke hier, hätte so etwas tun können. Es war die Harfe, nicht der Junge, die unseren Obstgarten wieder belebte.«
Ich fuhr auf und wollte etwas sagen. Doch bevor ich den Mund öffnen konnte, redete Honn weiter.
»Nach meiner Ansicht, Sohn, sind alle Schätze von Fincayra aus dem Stoff, aus dem die Wunder sind, von Dagda selbst geschaffen.«
Ruhig, fast ehrfürchtig fügte er hinzu: »Es gibt sogar einen Pflug, eins der sieben weisen Werkzeuge, der sein eigenes Feld
bestellen kann. Tatsächlich! Man sagt, dass jeder Acker, den er berührt, genau die richtige Ernte trägt, weder zu viel noch
zu wenig.«
Der Junge schüttelte verwundert den Kopf. Er deutete auf den klapprigen Holzpflug neben der Grube und lachte. »Dann kann man
ihn nicht mit dem da verwechseln, Vater! Mir tut schon der Rücken weh, wenn ich dir nur zuschaue, wie du ihn ziehst.«
Honn strahlte. »Nicht so, wie mein Rücken schmerzt, nachdem du von einem Baum drauf gesprungen bist.«
Die beiden lachten zusammen. Honn legte den stämmigen Arm um die Schulter seines Sohns und wandte sichstolz an mich. »Die
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