Merlin und die sieben Schritte zur Weisheit
Ästen hinauf. »Aber zuerst bringen wir dich hinein.«
Sie zog ihre leichten Schuhe aus Baumrinde aus und trat in eine kleine Vertiefung zwischen den Wurzeln. Dann sagte sie einen
langen, zischenden Satz in der Sprache der Eiche. Die Wurzeln schlossen sich über ihren Füßen, so dass sie wie ein junger
Schössling neben Arbassa stand. Während sie die Arme ausstreckte, um den mächtigen Stamm zu umarmen, senkte sich ein belaubter
Ast herunter und legte sich über ihren Rücken. Plötzlich hob sich der Ast, die Wurzeln teilten sich, der Stamm faltete sich,
riss auf und gab einen schmalen, von Rinde umrandeten Gang frei. Rhia ging hinein und winkte uns ihr zu folgen.
Als ich mich nach der Trage bückte, schaute ich meineMutter an. Schweiß bedeckte ihre Stirn und Wangen. Welche Qualen in ihrem Gesicht! Sie so zu sehen war, als würde mir ein
Speer in der Brust herumgedreht. Und doch . . . ich wurde das Gefühl nicht los, dass nicht der ganze Schmerz, der sie an diesem
Tag marterte, von mir verschuldet war.
Knurrend nahm Bumbelwy das andere Ende der Trage. Zusammen stolperten wir über das Wurzelgeflecht zum Eingang. Als ich nur
noch zwei Schritte entfernt war, begann sich die Tür mit den Rindenkanten zu schließen. Genau wie damals, als ich zum ersten
Mal zu Arbassa kam! Wieder wollte mich der Baum nicht einlassen.
Rhia schrie. Sie hob beide Hände und zischte eine strenge Rüge. Der Baum schauderte. Die widerspenstige Tür schloss sich nicht
weiter, dann öffnete sie sich langsam wieder. Rhia warf mir einen bösen Blick zu. Dann drehte sie sich um und stieg die knorrige
Wendeltreppe im Stamm hinauf. Ich zog den Kopf ein, als ich hinter ihr durch die Tür ging, und wurde von frischen, kräftigen
Gerüchen empfangen, die mich an Herbstlaub nach dem Regen erinnerten. Durch den gewaltigen Umfang ihres Stamms wirkte Arbassa
innen noch größer als außen. Dennoch musste ich in dem trüben Licht sehr aufpassen, dass ich mit der Trage nicht gegen die
Wände stieß oder sie so schief hielt, dass meine Mutter herunterrutschen könnte.
Vorsichtig stiegen wir die Stufen aus lebendem Holz hinauf. Eine seltsame Schrift, kunstvoll wie eine Spinnwebe, zog sich
über die Wände. Ihre verschlungenen Runen bedeckten den ganzen Treppenschacht von oben bis unten. Aber sie war so unentzifferbar
wie zuvor. Ich wurde noch mutloser.
Schließlich kamen wir an einen dichten Blättervorhang, den Eingang zu Rhias Häuschen. Wir schoben ihn zur Seite und traten
auf einen Boden aus geflochtenen Zweigen. Um uns herum wuchsen Holzmöbel direkt aus den ineinander verschlungenen Ästen. Ich
erkannte den niederen Tisch an der Feuerstelle wieder, die zwei robusten Stühle, den honigfarbenen Schrank, dessen Kanten
mit grünen Blättern umrahmt waren.
»Oh«, flüsterte Elen und drehte sich, um besser sehen zu können. »Wie wunderschön.«
Ich nickte Bumbelwy zu und wir setzten die Trage so sanft wie möglich ab. Während er sich steif aufrichtete, hellte sich sein
grämliches Gesicht etwas auf. Er schaute sich um und war offenbar vom Inneren des Häuschens fasziniert. Meine Gedanken aber
waren mit dem Treppenschacht unter uns beschäftigt.
Rhia berührte mich am Arm, als könnte sie meine Gedanken lesen. »Ich muss ein paar Kräuter für deine Mutter holen.« Sie nahm
die blühende Harfe von der Schulter und stellte sie an die Wand bei der Trage. »Und du hast viel Arbeit vor dir, wenn du immer
noch hoffst sie zu retten.«
X
ARBASSAS GEHEIMNIS
T ief im Inneren von Arbassa mühte ich mich ab. Ich versuchte alles Mögliche, um den Schlüssel zu dem Rätsel zu finden. Von
Zeit zu Zeit stapfte ich auf der Suche nach dem richtigen Anfang die Wendeltreppe hinauf und wieder hinunter. Ich trat zurück
und musterte die Wände, um eine Art Muster zu erkennen. Ich ging ganz nah heran, legte meine Stirn auf das kühle Holz und
prüfte jede einzelne Rune. Vergeblich.
Stunde um Stunde brütete ich über der geheimnisvollen Schrift an den Wänden, einer Schrift, die mich irgendwie zu dem Heilmittel
führen könnte, das Elen so verzweifelt nötig hatte. Doch obwohl die kompliziert geschnitzten Zeichen voller versteckter Bedeutung
zu sein schienen, stand ich verständnislos davor.
Die Sonne ging unter und das dürftige Licht im Treppenschacht erlosch ganz. Eine Zeit lang strengte ich mein zweites Gesicht
an, das im Dunkeln noch unzuverlässiger war als sonst, bis Rhia mir schließlich eine
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