Merlin und die sieben Schritte zur Weisheit
Anderswelt, Doch Hoffnung
hast du nie . . .
Aufgeregt las ich nun Rune um Rune meinen Weg die Treppe hinauf. Oft blieb ich stehen und wiederholte mir die Worte, bevor
ich weitermachte. Als ich schließlich oben ankam, schienen die ersten Sonnenstrahlen die Treppe hinunter und zitterten über
die Schriftzeichen. In der Nacht hatte sich das Lied von den sieben Schritten in die Wände meines Herzens so tief eingeschrieben,
wie es einst in die Wände von Arbassa geschnitzt worden war.
XI
NICHT NUR EINE MELODIE
I ch stieg die letzten Stufen hinauf und trat durch den Blättervorhang. Meine Mutter lag immer noch auf dem Boden, aber nicht
mehr auf der Trage. Als sie mich hereinkommen hörte, regte sie sich unter ihrer leichten silbrigen Decke, die aus Mottengespinst
gewoben war, und versuchte angestrengt den Kopf zu heben. Rhia saß mit gekreuzten Beinen neben ihr und betrachtete sie besorgt.
Bumbelwy lehnte an der Wand gegenüber und schaute finster in meine Richtung.
»Ich habe die Schrift gelesen«, verkündete ich ohne Stolz. »Jetzt muss ich versuchen ihr zu folgen.«
»Kannst du uns ein wenig davon erzählen?«, flüsterte Elen. Das rosa Morgenlicht, das durch die Fenster drang, fiel auf ihre
bleichen Wangen. »Wie beginnt sie?«
Verzagt kniete ich neben ihr nieder. Ich betrachtete forschend ihr Gesicht, das so von Schmerz gezeichnet und doch so liebevoll
war. Und ich zitierte:
Das Lied von den sieben Schritten zur Weisheit,
Nicht nur eine Melodie,
Führt dich vielleicht zur Anderswelt,
Doch Hoffnung hast du nie.
»Doch Hoffnung hast du nie«, wiederholte Bumbelwy und starrte ausdrucklos auf seinen Hut. »Nur zu wahr, zu wahr, zu wahr.«
Ich blitzte ihn wütend an und Rhia griff nach einem kleinen Kopfkissen, das nach Tannennadeln duftete. »Was soll das heißen,
Nicht nur eine Melodie
?«
»Ich bin mir nicht sicher.« Ich sah zu, wie sie meiner Mutter das Kissen unter den Kopf schob. »Aber es geht damit weiter,
dass jede der sieben Strophen Teil des
Großen und herrlichen Lieds der Sterne
ist, also hat es vielleicht damit etwas zu tun.«
»Das stimmt, mein Sohn.« Elen betrachtete mich einen Augenblick. »Was stand noch in der Schrift?«
»Vieles.« Ich seufzte. »Das meiste verstehe ich nicht. Über Samen und Kreise und die verborgenen Quellen der Magie. Und etwas
darüber, dass der einzige Unterschied zwischen guter und schlechter Magie die Absicht des Zauberers ist.«
Ich griff nach Elens Hand. »Dann kam ich zu den sieben Schritten. Sie beginnen mit einer Warnung.«
Geh einen Schritt nach dem anderen,
Erkenne in jedem die Wahrheit,
Die wie ein Baum aus Samen entsteht
Und reift zu Weisheit und Klarheit.
Ich hielt inne und dachte daran, dass selbst die mächtige Arbassa, in deren Armen wir jetzt saßen, einmal als Samen angefangen
hatte. Das war immerhin eine kleine Ermunterung für die folgenden Worte:
Aus Teilen bildet das Ganze sich;
Kein Schritt ist zu überspringen.
Und nur wer die Seele der Strophe begreift,
Dem kann das Wagnis gelingen.
»Nur wer die Seele der Strophe begreift«, wiederholte Rhia. »Was, glaubst du, kann das bedeuten?«
Ich berührte die verflochtenen Zweige des Bodens. »Ich habe keine Ahnung.«
Meine Mutter drückte schwach meine Hand. »Sag uns die Strophen.«
Ich dachte immer noch über Rhias Frage nach, während ich zitierte:
Der Schritt Verändern kommt zuerst,
Ein Bäumling kennt ihn gut.
Wie man verbindet, folgt danach;
See des Gesichts macht Mut.
Beschützen ist die Zwergenkunst,
Im tiefen Fels erprobt.
Benennen ist der vierte Schritt,
Wofür man Slantos lobt.
Das Springen über Stock und Stein
Macht Riesen keinen Kummer.
Und zu erledigen lernt man, wo
Ein Drache liegt im Schlummer.
Wenn du dann noch zu sehen weißt
Der vergessenen Insel Macht,
Bist du für deinen Weg bereit
Zum Ziel, dem Andersweltschacht.
Doch wage erst dich an den Schacht,
Wenn jeder Schritt getan.
Denn Balor, der ihn streng bewacht,
Hat seinen eignen Plan.
Stille senkte sich über den Raum. Selbst Bumblewys Glocken regten sich nicht. Schließlich sagte ich gedämpft: »Ich weiß nicht,
wie ich alle diese Dinge tun soll, die das Lied verlangt, und noch rechtzeitig zurückkehren kann, bevor . . .«
». . . ich sterbe.« Elen hob die Hand an meine Wange. »Kann ich dich irgendwie überreden nicht zu gehen, mein Sohn?« Ihr Arm
fiel zurück auf den Boden. »Dann wären wir am Ende wenigstens
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