Merlin und die sieben Schritte zur Weisheit
fünf oder sechs
Bäume zusammen, erreichte das Mehrfache meiner Größe, bevor die ersten Zweige aus ihm wuchsen. Von dort stieg er immer höher,
bis er schließlich in die Wolken eintauchte.
Mitten zwischen den tieferen Ästen saß Rhias luftiges Haus, das aus der Eiche zu wachsen schien. Zweige bogen sich zu seinen
Wänden, zu Boden und Dach. Schimmernde Vorhänge aus grünen Blättern bedeckten jedes Fenster. Ich erinnerte mich, wie ich das
Haus zum ersten Mal bei Nacht gesehen hatte, als es von innen leuchtete und glühte wie ein explodierender Stern.
Rhia hob die Arme wie aufstrebende Äste. »Arbassa.«
Der große Baum bebte und regnete Tau auf uns herab. Schuldbewusst dachte ich an meinen ungeschickten Versuch, die Buche in
den dunklen Hügeln dazu zu bringen, sich vor mir zu neigen. An jenem Tag hatte Rhia mich deshalb einen Toren genannt, zu Recht
oder zu Unrecht. Als ich jetzt vorsichtig die Trage meiner Mutter ins Gras senkte, wusste ich jedenfalls, dass ich an jenem
Tag ein weitaus größerer Tor gewesen war, weil ich etwas anderes versucht hatte.
»Rosmarin«, sagte Elen, ihre Stimme war vom Stöhnen heiser. Sie deutete auf einen Busch mit nadelähnlichen Blättern, der am
Rande der Lichtung wuchs. »Hol mir etwas davon. Bitte.«
Schnell pflückte Rhia einen Zweig und gab ihn ihr. »Sein Duft erinnert mich an Tannennadeln in der Sonne. Wie nennst du es?«
»Rosmarin.« Meine Mutter rollte den Zweig zwischen den Handflächen, ein starker Duft stieg auf. Sie führte die Hände ans Gesicht
und atmete ihn tief ein.
Ihr Gesicht entspannte sich etwas. Sie ließ die Hände sinken. »Die Griechen nannten es
Sternenlicht des Landes
. Ist das nicht hübsch?«
Rhia nickte, ihre Locken tanzten um ihre Schultern. »Und es hilft gegen Rheumatismus, nicht wahr?«
Elen schaute sie überrascht an. »Woher um alles in der Welt weißt du das?«
»Meine Freundin Cwen nahm es für ihre Hände.« Ein Schatten flog über Rhias Gesicht. »Das heißt, sie war meine Freundin.«
»Sie schloss einen Pakt mit den Goblins«, erklärte ich.»Und brachte uns dabei fast um. Sie war ein Bäu – Rhia, wie hast du sie genannt?«
»Ein Bäumling. Halb Baum, halb Mensch. Die allerletzte ihrer Art.« Rhia hörte einen Moment den flüsternden Eichenblättern
über uns zu. »Sie hat sich um mich gekümmert, seit ich ein Baby war, nachdem sie mich verlassen im Wald gefunden hatte.«
Meine Mutter krümmte sich vor Schmerzen, doch sie wandte den Blick nicht von Rhia. »Fehlt dir . . . fehlt dir deine richtige
Familie, Kind?«
Rhia machte eine leichte Handbewegung. »Oh nein. Überhaupt nicht. Die Bäume sind meine Familie.«
Wieder zitterten die Zweige und bespritzten uns mit Tau. Aber ich bemerkte, dass Rhias graublaue Augen trotz ihrer sorglosen
Worte traurig blickten. Trauriger, als ich sie je gesehen hatte.
Bumbelwy hatte Brauen, Mund und Kinne in besorgte Falten gelegt, als er sich über die Trage beugte und die Stirn meiner Mutter
berührte. »Du glühst«, sagte er grimmig. »Mehr als zuvor. Das ist jetzt eine gute Gelegenheit für mein Rätsel über meine Glocken.
Es ist eins meiner lustigsten – vor allem, weil ich kein anderes kenne. Soll ich es erzählen?«
»Nein.« Ich schob ihn grob zur Seite. »Wenn sie deine Rätsel und Lieder hört, geht es ihr noch schlechter!«
Er schmollte, alle seine Kinne bebten über der Schnalle seines Umhangs. »Nur zu wahr, zu wahr, zu wahr.« Dann richtete er
sich auf. »Aber eines Tages, denk an meine Worte, werde ich jemanden zum Lachen bringen.«
»Glaubst du wirklich?«
»Ja. Vielleicht sogar dich.«
»Schön. Und an dem Tag, an dem dir das gelingt, esse ich meine Stiefel.« Ich schaute ihn zornig an. »Geh jetzt weg. Du bist
schlimmer als ein Fluch, eine Seuche und ein Taifun zusammen.«
Elen stöhnte und veränderte ihre Stellung auf der Trage. Ihre Augen waren ängstlich aufgerissen, sie wollte etwas zu Rhia
sagen, doch dann überlegte sie es sich aus irgendeinem Grund anders. Sie bat mich: »Hol mir etwas Zitronenmelisse, sei so
gut. Sie wird mir gegen dieses Kopfweh helfen. Weißt du, wo sie wächst?«
»Ich bin mir nicht sicher. Rhia wird es wissen.«
Rhia nickte, sie sah immer noch bedrückt aus.
»Und ein wenig Kamille, Kind, wenn du welche finden kannst. Sie steht oft bei Pinien neben einem kleinen weißen Pilz mit roten
Härchen auf dem Stamm.«
»Die Bäume werden mich hinführen.« Rhia schaute zu Arbassas mächtigen
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