Merlin und die sieben Schritte zur Weisheit
ungewöhnliche Fackel brachte. Es war
eine faustgroße Kugel aus dünnem, aber festem Bienenwachs. Darin krabbelte über ein Dutzend Käfer, die in einem gleich bleibenden
bernsteinfarbenen Licht glühten. Es reichte aus, um wenigstens einen kleinen Ausschnitt der Schrift zu beleuchten.
Obwohl ich für die Fackel dankbar war, nahm ich sie wortlos entgegen. Das Gleiche galt für die beidenSchüsseln, eine mit Wasser und eine mit großen grünen Nüssen gefüllt, die Bumbelwy mir einige Zeit später brachte. Er stolperte
auf der Treppe und leerte mir die Hälfte des Wassers über den Nacken, dennoch bemerkte ich ihn kaum. Ich war zu tief in meine
Arbeit versunken. Und mit meinen Schuldgefühlen beschäftigt. Denn sosehr ich mich auch auf die seltsamen Zeichen konzentrierte,
ich konnte das immer wiederkehrende Ächzen und Stöhnen der Frau, die über mir auf dem Boden lag, nicht überhören. Der Frau,
die ich nach Fincayra gebracht hatte.
Ich wusste, dass draußen ein blasser Neumond über dem Drumawald aufging und einen schwachen Silberglanz über Arbassas Äste
warf. Jetzt hatte ich einen Tag weniger als einen Monat Zeit, das Heilmittel zu finden. So schwierig, vielleicht unmöglich
diese Aufgabe auch sein mochte, ich konnte nicht damit beginnen, bevor ich die Schrift entziffert hatte. Und die Schrift schien
ihr Geheimnis nicht teilen zu wollen.
Müde legte ich die Hand an die Holzwand. Plötzlich spürte ich einen kurzen Wärmestoß in den Schriftzeichen. Er berührte kaum
meine Handfläche, da war er schon verschwunden. Zurück blieb tief in mir die Gewissheit, dass diese Schrift tatsächlich von
dem großen Magier Tuatha geschnitzt worden war. Hatte er wissen können, dass viele Jahre später eines Tages sein Enkel sich
damit plagen würde, diese geheimnisvollen Worte zu lesen? Dass die Worte die einzige Hoffnung waren, den Treppenschacht zur
Anderswelt und zu Dagdas Elixier zu finden? Und konnte Tuatha geahnt haben, dass mit dem Elixier Elen gerettet werden sollte
– die Frau, der er einst dieGeburt eines Zauberers mit noch größeren Kräften als seinen eigenen prophezeit hatte?
Ein schöner Zauberer war ich geworden! Was hatten meine Kräfte bewirkt, wenn ich nicht gerade ein magisches Instrument trug?
Nichts als Elend. Mir und denen, die mir folgten. Ich hatte nicht nur meine eigenen Augen ausgelöscht, sondern beinah auch
das Leben meiner Mutter.
Ich stolperte zum Fuß der Treppe hinunter. Verzweifelt lehnte ich mich an die Wand. Ich streckte meine Hand aus und berührte
das erste Schriftzeichen mit der Fingerspitze. Es sah ungefähr aus wie eine eckige Sonnenblume mit einem langen, zerzausten
Bart. Langsam fuhr ich den Bögen und Ritzen nach und versuchte erneut wenigstens einen Schimmer ihrer Bedeutung zu begreifen.
Nichts.
Ich ließ die Hand sinken. Vielleicht war es eine Sache des Vertrauens. Des Glaubens.
Ich war zum Zauberer geboren, oder nicht? Tuatha selbst hatte es gesagt. Ich bin sein Enkel. Sein Erbe.
Wieder berührte ich die erste Rune.
Wieder spürte ich nichts.
Sprich zu mir, Rune! Ich befehle es dir!
Immer noch nichts. Ich schlug mit der Faust an die Wand.
Sprich zu mir, sage ich! Das ist mein Befehl!
Wieder drang ein schmerzliches Stöhnen durch den Treppenschacht. Mein Magen verkrampfte sich. Langsam, unsicher atmete ich
ein.
Wenn nicht meinetwegen, dann ihretwegen! Sie stirbt, wenn ich nicht eine Möglichkeit finde, dein Geheimnis zu erfahren.
Eine Träne rollte über meine Wange.
Bitte. Ihretwegen. Für Elen. Für . . . Mutter.
Ein seltsames Prickeln pulsierte durch meinen Finger. Ich erfasste einen Hauch von etwas, weniger als ein Gefühl.
Ich legte den Finger auf das Schriftzeichen und konzentrierte mich noch mehr. Ich dachte an Elen, wie sie allein auf einem
Boden aus geflochtenen Zweigen lag. Ich dachte an ihre Liebe zu mir. An meine Liebe zu ihr. Das Holz unter meiner Fingerspitze
wurde wärmer.
Hilf ihr, bitte. Sie hat mir so viel gegeben.
Blitzartig verstand ich. Das erste Schriftzeichen offenbarte seine Bedeutung direkt meinem Herzen. Es sprach mit einer tiefen,
voll tönenden Stimme, die ich nie zuvor gehört, aber irgendwie immer gekannt hatte.
Die Worte müssen mit Liebe gelesen werden oder gar nicht.
Dann kam der Rest. In einem fließenden, in Kaskaden herabstürzenden Wortstrom, der mich überschwemmte und forttrug.
Das Lied von den sieben Schritten zur Weisheit, Nicht nur eine Melodie, Führt dich vielleicht zur
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