Merlins Drache II - Die Große Aufgabe: Roman
soll es sein?
Er schloss die Augen und ließ die Finger der freien Hand über die Blütenblätter streifen. Schließlich nahm er eins, das sich gerade richtig anfühlte – obwohl er nicht im Geringsten erklären konnte, warum. Als er die Augen öffnete, schnappte er überrascht nach Luft.
Schattenwurzel! Das hatte er nicht erwartet. Das dunkle Reich war das einzige, das er noch nie besucht hatte. Keiner, den er kannte, außer Basilgarrad, war dort gewesen und zurückgekehrt, um darüber zu reden. Und Basil war auf dem Wind dorthin geritten. Es gab vielleicht noch nicht einmal eine Pforte nach Schattenwurzel! Selbst wenn er versuchte, durch Pfortensuchen dorthin zu kommen, könnte er leicht ganz woanders landen. Oder schlimmer: Sein zerlegter Körper könnte nie mehr zusammengesetzt werden.
Grimmig schob er das Kinn vor.
Ich gehe nach Schattenwurzel. Wenn ich kann.
Einen letzten Moment lang schaute er über dieüppigen, nebligen Wiesen rundum, dann verdrängte er ihre strahlenden Farben. Seine Gedanken konzentrierten sich auf eine einzige Farbe, auf die der ewigen Nacht.
Dann ging Krystallus direkt in den neblig grünen Vorhang der Pforte. Flammen prasselten und schluckten ihn gierig. Mit einem Funkenregen verschwand er.
20
Feuer am Himmel
Drachen leben lange Zeit. Sehr lange Zeit. Aber einiges, tiefer als Erinnerung, lebt länger.
K rystallus stürzte vor und wankte aus der lodernden Pforte. Er rollte auf den harten Boden und roch sofort dessen seltsamen Geruch, wie zerstoßene Minze, aber herber. Er setzte sich auf und blinzelte. Hinter dem Boden, der von den flackernden grünen Flammen beleuchtet wurde, sah er nichts.
Nichts als Schwärze. Dunkler Himmel und noch dunklere Umrisse von Hügeln umgaben ihn. Bis auf die Pforte hinter ihm war nirgendwo ein Licht. Noch nicht einmal eine Spur von einem Lagerfeuer. Oder einem Wohnhaus. Oder Leben irgendeiner Art.
»Willkommen in Schattenwurzel«, flüsterte er sich zu und zog die Knie näher an die Brust, als er auf dem nach Minze duftenden Boden saß. Gewiss war in seiner Stimme ein Anklang von Triumph. Aber da war noch etwas – das mehr der Furcht glich.
Denn es gab hier tatsächlich Leben. Wenn er denGeschichten der Museos glaubte – der durchsichtigen, tränenförmigen Geschöpfe, die wunderbare, tief betrübte Lieder sangen –, dann enthielt das Reich, dem sie entflohen waren, unvorstellbare Schrecken. Welches Böse die Museos auch gezwungen hatte, vor Jahren aus Schattenwurzel zu fliehen, es verfolgte sie noch heute und gab ihren Liedern einen Unterton von Bedrohung. Und dieses Böse war zweifellos bis jetzt in diesem Reich geblieben … irgendwo hinter dem schwachen Lichtring der Pforte.
Vielleicht warte ich diesmal ausnahmsweise bis später, um meine Karte zu zeichnen! Sie würde sowieso nicht viel zeigen. Es sei denn, ich könnte eine neue Art Karte erfinden, die enthält, was nicht zu sehen ist.
Er fand, das sei eine hübsche Idee, grinste – und nahm sich vor, sie seiner Liste hinzuzufügen.
Langsam stand er auf. Er spähte in die Dunkelheit ringsum und versuchte, irgendetwas Erkennbares auszumachen. Etwas Lebendiges. Doch alles, was er sehen konnte, waren Schichten um Schichten von Dunkelheit.
Reich endloser Nacht
, das hatte ein Barde in seiner Ballade über die Flucht der Museos geschrieben. Wie hieß es da? Er erinnerte sich nur an einen Vers:
Dunkel spukt in jedem Traum
Was zur Flucht gebracht:
Fieber, Schreie, Höllenraum,
Reich endloser Nacht.
Etwas streifte sein Handgelenk, er fuhr zusammen. In dem schwankenden grünen Licht der Pforte sah er einen winzigen dreieckigen Fleck auf seiner Haut. Schwarz wie das Reich um ihn herum. Plötzlich verängstigt schüttelte er den Arm und versuchte, den Fleck abzuschütteln – samt allem Üblen, das er enthielt.
Zu seiner Überraschung hob sich das schwarze Dreieck von seinem Handgelenk und flatterte in die Luft. Im Zickzackkurs flog es an seinem Gesicht vorbei, bevor es in der Dunkelheit verschwand. Eine Motte! Er sah ihr nach – und fing wieder den Duft zerstoßener Minze auf.
Er hob die Hand an die Nase und schnupperte. Minze flutete in seine Nasenlöcher – herb, aber zugleich bemerkenswert süß. Er grinste über diese Entdeckung – und seine Dummheit.
Also enthält dieses Reich voller Dunkelheit und Gefahr auch eine duftende kleine Motte!
Die Neugier packte ihn, mehr von Schattenwurzel zu erkunden, und er schaute über die Schulter zur flammenden Pforte. Das Eingangstor, das
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