Messer, Gabel, Schere, Mord: Mitchell& Markbys Vierter Fall
anders. Selbst der Laubwald, in dem man so schöne und aufregende Spaziergänge unternehmen konnte, schien mit einem Mal feindselig. Es raschelte im Unterholz, und Dinge fielen von den Bäumen. Zweige knackten zwischen den dunklen Stämmen, von denen nicht wenige knorrig und verdreht waren und im schwachen Licht unheimlich menschlich wirkten. Emma stolperte über frei liegende Wurzeln und austreibende Schößlinge. Unsichtbare Augen beobachteten die beiden. Gelegentlich spiegelte sich das Licht der Taschenlampe in weit geöffneten Pupillen, vielleicht von einem Kaninchen oder einem Wiesel. Emma glaubte schon lange nicht mehr an Kobolde und Feen, und sie bemühte sich sehr, jeden Gedanken an Gespenster zu verdrängen, doch die Wälder erweckten Urängste in ihr. Hier existierten Dinge, die viel älter waren als Emma, älter als die Bäume, älter als die aufgezeichnete Geschichte von ganz Bamford. Formlose Dinge, zeitlose Dinge, längst vergessene Dinge. Sie bewegten sich zwischen umgestürzten, moosbewachsenen Stämmen und abblätternden Rinden hindurch und brachten die Blätter in den Zweigen zum Rascheln. Und dann erreichten sie den Rand der Tannenplantage. Mehr durch Glück als Geschick fand Emma den Wildwechsel wieder – sie hoffte, dass es der gleiche war und kein anderer. Sie packte Mauds Halfter fester und flüsterte der alten Eselin beruhigende Worte zu, auch um sich selbst Mut zu machen, dann stapften sie in die fremdartige Waldlandschaft. Tiefste Schwärze hüllte sie ein. Der Mond war nicht hell genug, um das Nadeldach zu durchdringen, und die Taschenlampe war viel zu schwach. Emma leuchtete auf den schmalen Weg, während sie nebeneinander hergingen, die Schritte lautlos, die Nüstern erfüllt vom muffigen Geruch nach Verwesung und dem beißenden, alles durchdringenden Gestank nach Harz. Es schien Emma, als würden sie bis ans Ende der Zeit so weiterstolpern, doch schließlich, zu guter Letzt, hörte sie das Plätschern von fließendem Wasser, das anzeigte, dass sie in der Nähe des Bachlaufs angekommen waren. Hier irgendwo hatte Emma mit Steinen und Tannenzapfen eine Stelle markiert, wo sie den Wildwechsel verlassen mussten. Erleichtert und triumphierend leuchtete sie mit der Taschenlampe den Steinhaufen an. Sie zupfte an Mauds Führstrick, und Maud trottete hinter ihr her unter die Bäume. Da war er, ihr kleiner Unterschlupf! Emma näherte sich mit einem Gefühl wachsenden Jubels. Sie hatten es geschafft! Nach so langem Marsch und so viel Schwierigkeiten waren sie endlich angekommen! Es war die Mühen wert gewesen.
»Jetzt wird alles wieder gut, Maud«, flüsterte sie atemlos in eines der langen herabhängenden Ohren. Maud stampfte mit einem Hinterhuf, wahrscheinlich um auszudrücken, dass sie anderer Meinung war. Emma zog die Plane zurück und leuchtete kurz mit der Taschenlampe ins Innere. Das Licht war nicht stark genug, um den gesamten Unterschlupf auszuleuchten, nur einen schmalen Streifen im Eingang, doch Emma hoffte, dass Maud begriff, dass sie hier in Sicherheit war. Sie zog am Halfter. Maud riss den Kopf zurück und scheute. Emma hatte Mühe, sie weiterzuziehen. Maud widersetzte sich schnaubend. Emma schaltete die Taschenlampe aus und steckte sie in ihren Hosenbund, um beide Hände für die Auseinandersetzung frei zu haben. Unter übermenschlicher Anstrengung gelang es ihr, die alte Eselin in das beengte, dunkle, stinkende Innere zu zerren. Unvermittelt fiel die Plane über dem Eingang mit einem klatschenden Geräusch herab, und Emma zuckte zusammen, als auch der letzte schwache Lichtschein von draußen abgeschnitten wurde. Sie fand sich in absoluter Dunkelheit wieder. Der Gestank hier drin war viel schlimmer, als Emma ihn in Erinnerung hatte. Die Luft war schal und abgestanden, faul und bedrückend zur gleichen Zeit. Sie begann zu fürchten, dass sie es nicht ertragen würde. Und dann hörte sie, wie sich in der Nische neben dem Eingang etwas bewegte. Zuerst dachte sie, es wäre Maud, die mit einem Huf scharrte. Doch sie stand dicht an die alte Eselin gedrückt, und ihr wurde bewusst, dass das Tier stocksteif stand. Was auch immer es war, es bewegte sich in diesem Augenblick erneut. Emmas Herz schlug plötzlich bis zum Hals, und das Blut schien in ihren Adern zu gefrieren. Ein anderes Tier? Verzweifelt ging Emma eine Liste beruhigender Möglichkeiten durch. Ein Dachs oder ein Fuchs? Unwahrscheinlich. Sie würden sich draußen im Unterholz aufhalten. Ein Vogel, der hereingeflogen war und in
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