Messertänzerin
Vermutlich rechneten sie mit Übergriffen durch die Tassari. Also schlich sich Divya, im Wettlauf mit der Dämmerung, rings um die Stadt herum. Nach einer ganzen Weile versuchte sie noch einmal, ihr Seil zu werfen. Aufgrund der Höhe der Mauer benötigte sie einige Versuche, und auch dann musste sie mit verkrampften Fingern lange auf halber Höhe warten, bis die Wachen weit genug weg waren. Schließlich zog sie sich mit schmerzenden Handflächen hoch und ließ sich eilig an der anderen Seite wieder hinunter. Und dennoch war sie überzeugt davon, dass ihr Weg zurück in die Stadt der leichteste Teil ihrer Aufgabe war.
Als sie in den frühen Morgenstunden den großen Marktplatz erreichte, waren die Bauern und Handwerker mit dem Aufbau ihrer Stände bereits fast fertig. Divya beobachtete das Treiben aus sicherer Entfernung von einem Dach aus, um festzustellen, wo Wachen postiert waren. Leider hielten sie sich nicht nur an bestimmten Punkten des Platzes auf, sondern gingen manchmal in Zweiergruppen los, quer über den Markt. Außerdem erinnerte sich Divya an Rocs Worte, dass hier das Hauptquartier der Stadtwachelag. Tatsächlich! Dort war ein Gebäude, aus dem ab und zu weitere Männer kamen. Dieser Platz war mit Sicherheit der ungeeignetste, um sich als gesuchte Attentäterin zu zeigen. Aber der Markt war auch der beste Platz, um jemanden zu finden.
Als endlich genügend Städter mit kaufbereiten Blicken an den Ständen vorbeiflanierten, suchte Divya sich einen stabil aussehenden Karren mit einem Holzdach, der offenbar einem Scherenschleifer gehörte. Über die Deichsel kletterte sie hinauf, machte eine Drehung und blieb in ihrer auffälligsten Pose stehen – eine Hüfte seitwärts geschoben, die Hände mit den metallenen Halas in der Luft.
Der Erste, der reagierte, war der Besitzer des Karrens, der sie mit deftigen Flüchen zum Herunterkommen aufforderte. Divya zwang sich ruhig zu bleiben und zwinkerte ihm lächelnd zu. Als er drohte, zu ihr hinaufzuklettern, machte sie eine weitere Drehung, die ihre Vesséla in Schwung brachte.
Der Scherenschleifer stand inzwischen auf der Deichsel und fuchtelte mit einer Schere in der Luft herum. Divya wusste, dass sie nur noch eine Chance hatte, ihre Position zu verteidigen, sonst wäre sie bereits auf der ersten Flucht des heutigen Tages. Aus einer eleganten Drehung heraus riss sie dem Schleifer die Schere aus der Hand und ließ sie an ihren Fingern im Kreis durch die Luft surren. Der Mann ging in Deckung – und die Umstehenden lachten.
»Ihr bekommt sie wieder«, flüsterte sie dem Scherenschleifer zu. »Seht, wie viel Kundschaft Ihr habt!«
Er wandte den Kopf und bemerkte nun auch die Gruppe von Neugierigen, die sich gegenseitig anstießen und auf das Dach des Karrens deuteten. Heute bot Divya eine vielschnellere Version des Frühlingstanzes, diesmal mit einer wirbelnden Schere in den Händen anstelle der pantomimischen Fingerbewegungen. Der wilde, hüftschwingende Tanz machte ihr Spaß, obwohl sie dabei sehr aufmerksam in die Menge blicken musste. Viel Zeit blieb ihr nicht.
Als sie von Weitem die Männer in Braun bemerkte, die sich einen Weg durch das Gedränge bahnten, setzte sie zum krönenden Abschluss an und feuerte die Schere von oben gezielt in den Tisch neben den Schleifstein.
»Das nenne ich scharf!«, kommentierte sie ihren Wurf mit einem Seitenblick auf den Scherenschleifer, der daraufhin unsicher in die Menge lächelte – und überrascht das Klatschen der Leute erntete.
»Hört her!«, fuhr Divya dazwischen, bevor das allgemeine Gemurmel ihre Stimme übertönen konnte. »Sagt den Rebellen, dass ich sie suche. Wir treffen uns in der Nacht dort, wo wir uns das letzte Mal getrennt haben.«
Während die Menge sie noch erschrocken anstarrte, sprang sie bereits mit einem Satz über den Rücken des Pferdes, das wohl dem Scherenschleifer gehörte, auf den Karren eines Töpfers. Von dort warf sie ein Seil zum Vordach eines Hauses. Als die Wachen die Stelle erreicht hatten, an der sie das letzte Mal den Boden berührt hatte, war Divya längst über ein paar weitere Dächer verschwunden.
Diesen Auftritt wiederholte sie an diesem Tag noch mehrere Male auf drei verschiedenen Märkten der Stadt. Da die Schmiede und Schleifer offenbar die stabilsten Karren besaßen, wollte es der Zufall, dass sie noch öfter Gelegenheit hatte, mit scharfen Gegenständen zu werfen.
In der Nacht kehrte sie zu dem Haus zurück, in dem sie den Rebellen begegnet war. Zunächst wartete sie,
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