Messewalzer
sich im Rollstuhl aus dem Schwimmbadbereich entfernte. Vogelsang war überrascht, Kroll wiederzusehen. »Das gibt’s ja nicht! Mein Lieblingsschüler Kroll! Wie komme ich zu der Ehre?«
»Hallo, Bernd.« begrüßte Kroll seinen ehemaligen Ausbilder und zeigte auf Wiggins. »Das ist mein Kollege …«
»Ich weiß, ich weiß!«, wehrte Vogelsang ab. »Glaubt ihr etwa, ich lese keine Zeitung? Auch wenn ich jetzt in einer Seniorenresidenz wohne, gebe ich mir immer noch Mühe, das Tagesgeschehen zu verfolgen. Glaubt bloß nicht, dass ihr mit einem verkalkten Greis redet.«
Kroll erkannte sofort, dass Vogelsang Recht hatte. Seinem scharfen Verstand war das Alter nicht anzumerken. Er versuchte das Gespräch aufzulockern. »Du machst mir nicht den Eindruck, als wärst du ein alter Tattergreis! Aber ich wusste ja schon immer, dass du eine rege Person bist. Geht’s dir gut?«
Vogelsang schlug mit der Hand auf seinen Oberschenkel. »Ein guter Tipp unter Kollegen! Wenn eure Beine nicht mehr so wollen wie euer Kopf, dann seht bloß zu, dass ihr euch entweder aus dieser Welt verabschiedet oder ebenfalls hierhin verpflanzen lasst. Das ist der Mercedes unter den Sterbehotels!«
Kroll betrachtete seinen ehemaligen Ausbilder nachdenklich. Ihn plagte ein schlechtes Gewissen, weil er sich in den letzten zehn Jahren nicht mehr um Vogelsang gekümmert hatte, ihn nicht einmal besucht hatte. Vor zehn Jahren war Vogelsangs Frau gestorben, die ihn bis ans Ende ihrer eigenen Kräfte versorgt und gepflegt hatte. Weil sie keine Kinder hatten, wurde mit dem Tod der Frau die Einlieferung in ein Seniorenheim unausweichlich. Für Vogelsang war das bestimmt eine außergewöhnliche Belastung in einer schmerzvollen Situation. Und Kroll hatte nicht ein einziges Mal Zeit für einen Besuch gefunden. Das war wirklich beschämend.
Vogelsang schien Kroll seine Vernachlässigung nicht übel zu nehmen, er war noch nie nachtragend gewesen. Sein Ton war freundlich. »Ich glaube, man muss nicht einmal bei der Polizei gewesen sein, um zu erraten, warum ihr hier seid!«
Kroll munterte ihn mit einer Handbewegung auf fortzufahren.
»Peter Eimnot!«, kam es daraufhin wie aus der Pistole geschossen.
»Wie kommst du darauf?«, fragte Kroll.
»Weil man mich mit dieser Geschichte nervt, seit der Fall Eimnot wieder aufgerollt wurde.« Er dachte nach. »Eigentlich hatte das auch seine Vorteile. Horden von Journalisten sind über mich hergefallen. Das war eine ganz willkommene Abwechslung zu dem Leben im Heim.« Er lächelte. »Hat mir sogar einen Heiratsantrag von einer Mitbewohnerin eingebracht, aber die war noch älter als ich.«
»Und … was hältst du von der Sache?«, fragte Kroll.
Vogelsang zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung. Im Nachhinein sieht es so aus, als hätte ich mich da tatsächlich nicht mit Ruhm bekleckert.«
Kroll hakte nach. »Aber Bernd, das ist doch zu einfach. Du warst einer unserer besten Leute. Dir hat doch niemand etwas vorgemacht. Du warst die Gründlichkeit in Person.«
Vogelsang schien durch die Polizisten hindurchzusehen. »Ach Kroll! Der Nachteil an diesem Leben hier ist, dass man einfach viel zu viel Zeit zum Nachdenken hat. Weißt du, wie oft ich mir den Kopf über diesen Fall zerbrochen habe? Ich denke, der wird mich noch bis an mein Lebensende beschäftigen.« Er richtete sich auf. »Da waren natürlich die erdrückenden Indizien: Die Parkplatzwärterin hatte ihn erkannt, er hatte diese Bisswunde am Arm, die er sich nicht erklären konnte … und als zu allem Überfluss sein Alibi aufflog, kam das einem Schuldeingeständnis gleich. Auf der anderen Seite war die Kriminaltechnik noch nicht so weit wie heute. Eine DNA-Untersuchung des Blutes kannten wir früher noch nicht. Und dass heute Experten noch Gebissabdrücke anhand von Narben zuordnen können, ist im Vergleich zur Technik von früher eine Revolution.«
Kroll ließ nicht locker. »Und was glaubst du jetzt?«
Vogelsang musste nicht lange überlegen. »Ich glaube nach wie vor, er war es, Kroll.« Er lächelte verlegen. »Aber nenne es von mir aus Altersstarrsinn oder die fehlende Fähigkeit eines Menschen, der ohne Zweifel nicht mehr lange zu leben hat, kurz vor dem Ende einzugestehen, dass er einen Riesenfehler gemacht hat, der einen Menschen für viele Jahre unschuldig hinter Gitter gebracht hat.« Er sah seinen früheren Kollegen hilflos an. »Es ist verdammt schwierig, Kroll!«
Für einen Moment trat eine beklemmende Stille ein, die Vogelsang selbst
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