Messewalzer
Bräutigam ihm die Fotografie auch schon wieder entrissen und in ihrer Handtasche verstaut. »Das kommt gar nicht infrage. Die gebe ich niemals her. Sie ist das Einzige, was man mir von meiner Schwester gelassen hat!«
»O.K.« Die Polizisten akzeptierten Sarahs Einwände. »Gehen Sie aber bitte auf das nächste Polizeirevier in Ihrer Heimatstadt und lassen das Foto einscannen, damit man es uns übermitteln kann.«
Sarah sah sie abermals ungläubig an.
»Bitte! Vielleicht finden wir Ihre Nichte und Sie könnten sie wiedersehen. Ich glaube, Sie haben sich viel zu erzählen.«
Der pensionierte Hauptkommissar Bernd Vogelsang saß in seinem Zimmer in der Herbstvilla. Er studierte eine umfangreiche Tageszeitung, neben ihm stand auf einem kleinen Tischchen eine Kanne Tee nebst der dazugehörigen Tasse. Er war überrascht, seine Kollegen so schnell wiederzusehen.
»So viel Sehnsucht hatte ich gar nicht von euch erwartet.«
Kroll kam gleich zum Thema. »Wir sind da bei unseren Ermittlungen auf etwas gestoßen. Als Annemarie Rosenthal getötet wurde, soll ihre Tochter Amelie im Auto gesessen haben!«
Vogelsang tauchte die Teebeutel mehrfach in die Kanne, zog sie heraus und legte sie umständlich auf eine Untertasse. »Wie habt ihr denn das herausbekommen?«
Kroll beantwortete die Frage nicht. »Mich würde viel mehr interessieren, warum du uns nichts davon erzählt hast!«
Vogelsang überhörte den Vorwurf der Kollegen. Er blieb ruhig und höflich. »Ihr habt mich doch nur gefragt, was ich von der Sache halte. Ja, da saß ein Kind auf dem Rücksitz. Die Tochter von Frau Rosenthal war damals acht Jahre alt, wenn ich mich richtig erinnere. Was sollte die mit der Geschichte zu tun haben?«
»Zum Beispiel, dass sie den Mord an ihrer Mutter mit angesehen hat und sich an Dinge erinnern könnte, die für einige Leute unangenehm sind!«
»Du meinst, für Eimnot?«
»Ist doch denkbar!«
Vogelsang schenkte sich Tee nach. »Ach, Kroll. Lass doch die alten Geschichten ruhen. Wem nützt das jetzt noch was? Eimnot ist wieder auf freiem Fuß. Die Richter haben entschieden. Müssen wir immer schlauer sein?«
Kroll war überrascht, eine derartige Aussage von seinem ehemaligen Ausbilder zu hören. Vogelsang merkte das und fuhr unaufgefordert fort. »Das Mädchen stand unter Schock. Sie war tagelang nicht vernehmungsfähig und als wir sie endlich ansprechen durften, konnte sie sich an nichts erinnern. Die Ärzte hatten dafür sogar eine medizinische Erklärung. Aber den Fachbegriff habe ich vergessen.«
Wiggins deutete mit dem Zeigefinger auf eine Stelle unterhalb seines linken Auges. »Was hatte sie hier?«
»Ihr seid gut informiert«, bemerkte Vogelsang, bemüht, seine Überraschung zu verbergen. »Sie hatte dort einen Leberfleck.«
Kroll ging zum Fenster und sah in den gepflegten Garten. »Bleiben nur noch drei Fragen zu klären: Warum taucht Amelie nicht in den Akten auf, wo ist sie jetzt und wer ist ihr Vater?«
Vogelsang fuhr mit seinem Rollstuhl neben Kroll und blickte ebenfalls in den Hof. »Ihr seid gerade dabei, in einem der dunkelsten und abscheulichsten Kapitel der DDR-Geschichte zu blättern.«
Kroll wusste nicht, worauf sein alter Kollege hinauswollte.
»Die Tante von Amelie Rosenthal war in den Westen geflüchtet, ihre Mutter tot.«
»Aber sie musste doch noch einen Vater gehabt haben!«
»Der hatte schon vorher rübergemacht.«
Kroll versuchte, seine Gedanken zu sammeln. »Aber es gab doch noch Großeltern, die sich um das Kind kümmern konnten.«
Vogelsang winkte ab. »Die hatten sich auch ganz energisch um das Sorgerecht bemüht.« Er lächelte bitter. »Aber stellt euch doch bitte einmal vor, wie das Kind aus Sicht der Staatsorgane betrachtet wurde: Vater rübergemacht, die einzige Tante rübergemacht und die Mutter tot. Die engsten Bezugspersonen der Mutter, der Mann und die Schwester, beide im Westen. Das war mehr als verdächtig und reichte locker aus, um eine der empfindlichsten Sanktionen auszusprechen, die das Regime hier parat hatte.«
»Die Zwangsadoption!«, warf Wiggins mit bitterer Stimme ein.
Vogelsang nickte. Er sah immer noch aus dem Fenster. »Amelie Rosenthal war einfach weg. Von einem auf den anderen Tag. Kurz nach dem Tod ihrer Mutter war sie verschwunden. Niemand wusste, wo sie war, niemand konnte sie mehr erreichen! Nicht einmal wir … keine Chance. Und dann wurden die amtlichen Unterlagen bearbeitet. Sie wurde aus den Polizeiakten gelöscht. Offiziell hatte Annemarie Rosenthal
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