Messewalzer
Buchmesse zu besuchen. Als Wiggins sie auf dem Handy erreichte, hatte sie gerade einen Abstecher in die Leipziger Innenstadt gemacht, um sich die Nikolaikirche anzusehen. Sie war also ganz in der Nähe. Wiggins bat sie, in der Nikolaikirche auf sie zu warten. Wenig begeistert stimmte sie zu und gab eine kurze Beschreibung ihrer Kleidung, damit die Polizisten sie erkennen konnten.
Sarah Bräutigam saß in der ersten Reihe vor dem Altarraum. Kroll und Wiggins stellten sich kurz vor und nahmen neben ihr Platz. Die Kommissare schätzten Sarah Bräutigam auf Mitte 60. Sie war, ihrem Alter angemessen, elegant gekleidet: weiße Bluse, hellgrünes, leichtes Kostüm. Um den Hals trug sie eine Perlenkette, die weißen Haare waren gescheitelt und an den Seiten nach hinten gefönt.
Sie schaute auf den Altarraum. Dem Beruf der Polizisten brachte sie genauso wenig Interesse entgegen wie dem Grund des Zusammentreffens.
»Nikolaikirche … benannt nach dem Heiligen Nikolaus.« Sie blickte Kroll an und sah dann wieder nach vorne. »Wissen Sie, was der Name Nikolaus bedeutet? Das Wort kommt aus dem Griechischen: nikao heißt siegen und Laos heißt das Volk. Der Sieger ist das Volk. So vorausschauend waren die Menschen im zwölften Jahrhundert gewesen, als sie dieser Kirche ihren Namen gegeben haben. Ist das nicht erstaunlich?«
Sarah Bräutigam hatte die Nikolaikirche aufgesucht, um sich die friedliche Revolution aus dem Jahre 1989 noch einmal an ihrem Ursprung gegenwärtig zu machen. Kroll wollte sie nicht aus ihren Gedanken reißen.
»Zuerst waren es nur Gebete, Montagsgebete. Am Anfang kamen nur wenige Menschen und innerhalb kurzer Zeit wurden es immer mehr. Gegen Ende haben sich über 100.000 Menschen um diese Kirche versammelt.« Sie deutete mit dem Finger in den Altarraum. »Sehen Sie das Kreuz? Das ist jetzt über 800 Jahre alt. Es wurde über zehn Jahre restauriert. Und wissen Sie, wann es fertig wurde? Im September 1989!«
Kroll und Wiggins waren überrascht. Die Kenntnisse von Frau Bräutigam gingen weit über das hinaus, was man in den Touristenführern lesen konnte. Sie schien sich eingehend mit der friedlichen Revolution beschäftigt zu haben.
»Bei den Montagsgebeten waren immer mehr Nichtchristen als Christen in der Kirche. Aber das hat niemanden gestört. Dieser Raum ist offen für alle. Pfarrer Christian Führer hatte zwei Latten zu einem Kreuz zusammengezimmert und es auf den Boden vor dem Altar gelegt. Auf diese Weise konnten alle das Kreuz von oben betrachten. Neben dem Kreuz stand ein Wäschekorb voller Kerzen. Der Pfarrer hat die Besucher gebeten, eine Kerze am Altarlicht anzuzünden und sie auf das Kreuz zu stellen. Jeder sollte eine Bitte vortragen, einen Wunsch oder einfach seinen Unmut äußern. Die Christen haben noch ein kleines Gebet gesprochen. Und irgendwann war das Kreuz voller Kerzen. Das Mordwerkzeug der Römischen Macht war auf einmal ein Zeichen des Lichts, ein Zeichen der Hoffnung.« Sarah Bräutigam sah immer noch in den Altarraum. »Ja, so war das. Die Machthaber in der DDR hatten mit allem gerechnet. Nur nicht mit Gebeten! Und dann gingen die Montagsdemonstrationen los. Alles friedlich! Die Massen waren umzingelt von Soldaten und von der Polizei. Die hatten nur darauf gewartet, dass irgendeiner, irgendjemand von den 100.000 Menschen auch nur einen Stein wirft, und sie wären sofort brutal eingeschritten … aber es fiel kein Stein! Ist das nicht ein Wunder?«
Das Eintreffen einer japanischen Touristengruppe schien sie wieder in die Gegenwart zurückzuholen. Sie sah rasch auf die Uhr. »Reden wir draußen weiter.«
Sie setzten sich an einen der kleinen silbernen Tische vor einem Eiscafé nahe der Kirche und bestellten sich kühle Getränke.
Mit dem Verlassen der Kirche war Sarah Bräutigam wieder in die Gegenwart zurückgekehrt. Alle Gedanken an die friedliche Revolution hatte sie scheinbar an der Kirchentür abgestreift. Den Besuch der Polizisten empfand sie als Störung ihres Aufenthaltes.
»Warum wollten Sie mich sprechen?«»Es geht um Ihre Schwester Annemarie Rosenthal«, antwortete Kroll.
»Meine Schwester ist seit über 25 Jahren tot. Ich denke, das ist kein Grund, mich bei meinem Aufenthalt in Leipzig zu behelligen.«
»Wir wollen Ihre Zeit auch nicht allzu lange in Anspruch nehmen, aber wenn Sie uns bitte ein paar Fragen beantworten könnten? Wir glauben, es ist wichtig«, versuchte Wiggins, die aufgebrachte Frau ein wenig zu beruhigen.
»Ich weiß nicht, was daran wichtig
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