Messewalzer
länglichen Briefumschlag, der nicht zu übersehen war, weil alle anderen Unterlagen zur Seite geschoben waren. Wiggins erkannte sofort das Wappen des Freistaates Sachsen. Daneben stand mit großen, förmlichen Buchstaben als Absender Innenministerium des Freistaates Sachsen, Staatssekretär notiert und darunter die Adresse aus Dresden.
Wiggins nahm den Umschlag in die Hand. Er runzelte die Stirn und atmete tief durch. Was wollte der Staatssekretär von ihm? Warum meldete sich die höchste politische Ebene ausgerechnet bei ihm? Was hatte das schon wieder zu bedeuten? Er schaute auf Krolls Seite des Schreibtisches, um in Erfahrung zu bringen, ob sein Kollege ebenfalls Post vom selben Absender hatte. Aber dort lag definitiv kein Schreiben, was die ganze Sache noch verdächtiger machte. Wiggins’ erster Gedanke war, dass der Brief etwas mit ihrem aktuellen Fall zu tun hatte. Schließlich beschäftigten sie sich gerade mit Dingen wie DDR-Vergangenheit, Stasi und alten Übergriffen von DDR-Spionen. Wiggins hatte schon lange erwartet, dass ihre Tätigkeit irgendwann politische Kreise ziehen würde. Das wäre auch und gerade aufgrund der prominenten Beteiligten keine Überraschung gewesen. Aber damit wäre nicht zu erklären gewesen, warum offensichtlich nur er einen Brief erhalten hatte. Auf eines konnte man sich beim deutschen Behördenapparat verlassen: Der Dienstweg wurde immer eingehalten. Und dann hätte zumindest Kroll informiert werden müssen und auf jeden Fall Staatsanwalt Reis. Aber der hatte ihn bislang auch noch nicht angesprochen.
Wiggins stand auf und schenkte sich eine Tasse des frisch gebrühten Kaffees ein. Bedächtig ging er zu seinem Schreibtisch zurück und öffnete den Briefumschlag.
Sehr geehrter Herr Hauptkommissar Wiggins,
zunächst darf ich Ihnen die herzlichen Grüße des Staatsministers des Innern ausrichten.
Ich würde mich sehr freuen, wenn Sie es einrichten könnten, den Minister am kommenden Donnerstag um 16.30 Uhr in seinem Büro aufzusuchen.
Den Anlass des Gespräches möchte der Minister Ihnen gerne persönlich erklären.
Auch darf ich Sie bitten, niemanden über unser Gespräch zu unterrichten.
Ihr
Dr. Klaus Neumann
Staatssekretär
für
Dr. Klaus Hassemer
Staatsminister des Innern
Wiggins legte den Brief beiseite und dachte einen Moment nach. Er las das Schreiben erneut durch, in der Hoffnung, beim zweiten Lesen ein wenig schlauer zu werden. Vergebens! Er sah sich das Datum der Verabredung genauer an. Der nächste Donnerstag. Ach du Schreck! Das war ja schon morgen.
Als sich die Bürotür öffnete und sein Kollege eintrat, ließ er den Brief schnell und unauffällig in seiner Schreibtischschublade verschwinden. Kroll hatte keine Zeit für lange Ausführungen. »Los, komm. Wir fahren sofort zu dem alten Vogelsang! Ich erklär dir unterwegs, warum. Aber der kann sich auf was gefasst machen!«
Wiggins legte den Schalter um. Er folgte Kroll und verließ das Büro.
Bernd Vogelsang hatte das Frühstück beendet und war in die Tageszeitung vertieft.
Kroll war ungehalten. Er kam gleich zum Thema. »Verdammt noch mal, Bernd! Kannst du mir bitte mal erklären, was die ganze Scheiße soll?«
Vogelsang sah ihn mit einer Unschuldsmiene an, so als wüsste er gar nicht, worüber sein alter Kollege redete.
Krolls Ton blieb scharf. »Du verschweigst uns, dass ein Kind auf dem Rücksitz saß, jedes Wort müssen wir dir aus der Nase ziehen! Darüber hinaus erzählst du uns noch, Lachmann sei nicht bei dir gewesen. Das war eine glatte Lüge!« Im Bemühen, sich zu beruhigen, atmete Kroll tief durch. »Und ich frage mich jetzt, warum du uns so einen Mist erzählst!«
Vogelsang ließ sich nicht verunsichern. Er schenkte sich betont langsam Tee ein. Kroll vermutete, dass er eine kleine Denkpause brauchte.
»Also, jetzt komm erst einmal wieder runter, Kroll. Das mit der Kleinen habe ich wirklich nicht für wichtig gehalten. Die stand unter Schock. Konnte sich an nichts erinnern, nicht einmal an ihren Namen. Das war wirklich nicht der Rede wert. Von der haben wir nicht ein einziges Wort erfahren! Und Lachmann. Gut, der war einmal hier, vielleicht zweimal. Aber das ist doch nichts Besonderes. Der besucht alle seine Bewohner regelmäßig.« Vogelsang lies zwei Klumpen Kandiszucker in seine Tasse fallen und rührte langsam um. »Ihr könnt hier alle fragen. Der kommt zu jedem mindestens zweimal pro Jahr!« Er trank etwas Tee. »Ich dachte, ihr wolltet wissen, ob der aus einem
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