Messewalzer
»Das bringt uns doch nicht weiter! Es ist doch einfach nur müßig, über den Erfindungsreichtum der Stasi bei der Namensgebung für ihre inoffiziellen Mitarbeiter nachzudenken. Lass uns lieber mal in der Sache weiterkommen.«
»Sehr spaßig«, bemerkte Kroll. »Und was schlägst du vor?«
»Wir könnten zum Beispiel mit Frau Ehrentraut reden. Vielleicht hat die was Interessantes zu berichten.«
»Frau Ehrentraut?«, fragte Kroll ungläubig.
»Ich meine seine zweite Frau. Ehrentraut hat im Westen noch mal geheiratet. Genauer gesagt in Bremen.«
Kroll war wenig begeistert. »Klasse. Fahren wir eben nach Bremen. Kann ja höchstens vier Stunden dauern!«
»Gut, dass du einen Kollegen hast, der so etwas auch mal recherchiert!«, triumphierte Wiggins. »Senta Ehrentraut ist seit dem Jahre 2001 nicht mehr in Bremen. Die gute Dame wohnt in der Wettiner Straße im Waldstraßenviertel und heißt jetzt nicht mehr Ehrentraut, sondern Kuttner.«
Kroll wollte Wiggins den Triumph nicht gönnen. »Und warum soll die ausgerechnet in dem Moment, wo wir sie brauchen, hier in Leipzig wohnen?«, grantelte er.
»Die Antwort ist ganz einfach! Senta Ehrentraut hat in Bremen einen Herrn Doktor Kuttner kennen und lieben gelernt und ihn schließlich geheiratet. Herr Doktor Kuttner war damals Oberarzt in einem Bremer Klinikum und ist jetzt Chefarzt für Augenheilkunde an der Uniklinik Leipzig.«
»Ich hätte noch eine letzte Frage«, nörgelte Kroll weiter. »Warum erfahre ich das erst jetzt?«
Wiggins nahm den Autoschlüssel in die Hand. »Komm schon. Die freut sich bestimmt auf einen gut gelaunten Polizisten!«
Das Leipziger Waldstraßenviertel war geprägt durch die vielen Gründerzeithäuser, die nahezu ausschließlich die Straßen säumten. Inzwischen waren die meisten der Gebäude frisch saniert, sodass sich Besucher in eine andere Zeit versetzt fühlen mussten, wenn sie durch das Viertel schlenderten. Die geschlossenen Häuserzeilen mit den kleinen, meist engen Straßen waren quadratisch angeordnet, sodass sich im Inneren der überwiegend fünfgeschossigen Häuser ein großer Innenhof bildete, der als Garten und Parkplatz genutzt werden konnte. Ab und zu standen in den Hinterhöfen ›Kutscherhäuser‹, in denen vor gut 100 Jahren die Pferde oder das Personal untergebracht waren. Familie Kuttner bewohnte eines dieser Hinterhäuser.
Kroll und Wiggins gingen durch die Zufahrt, die zum Hinterhaus in der Wettiner Straße führte. Auf dem Rasen saß ein kleiner Junge, der eine Fernsteuerung in der Hand hielt. Vor ihm fuhr ein gelbes Auto, das hektisch die Richtungen wechselte. Kroll hielt es für einen futuristischen Geländewagen. Der Jeep bremste abrupt vor Wiggins Schienbein.
»Toller Renner!«, lobte Wiggins und drehte den Wagen in die entgegengesetzte Richtung.
»Space Runner SR 1.5.74. Weltalltauglich! Eroberungsfahrzeug von Captain Knicker für gefährliche Landeinsätze. Der hat auch Waffen an Bord! Wollt ihr die sehen?«
»Bestimmt später«, antwortete Kroll. »Ist deine Mutter zu Hause?«
Die Antwort kam aus der geöffneten Eingangstür. »Kann ich Ihnen helfen?«
Kroll schätzte Senta Kuttner auf Mitte 40. Die karierte Bluse trug sie lässig über der Jeans, ihre brünetten Haare steckten hinter den Ohren. Sie war nicht geschminkt, was ihrer charmanten Erscheinung nicht schadete.
Kroll ging auf sie zu und zeigte seinen Ausweis. »Mein Name ist Kroll und das ist Hauptkommissar Wiggins. Haben Sie einen Moment Zeit für uns?«
Frau Kuttner war für einen Moment irritiert. Ihr war deutlich anzusehen, dass sie den Besuch der Polizei nicht einordnen konnte.
»Aber natürlich. Kommen Sie bitte herein.«Sie gingen in eine große Küche und setzten sich an den Tisch. Das Angebot einer Tasse Kaffee nahmen Kroll und Wiggins gerne an.
Die Kommissare erklärten den Grund für ihren Besuch. Senta Kuttner war überrascht, dass die alte Geschichte jetzt wieder ausgegraben wurde. Sie hatte mit diesem Abschnitt ihres Lebens offensichtlich bereits abgeschlossen und hätte nichts dagegen gehabt, wenn das Gras, das über die Sache gewachsen war, nicht wieder abgemäht wurde. Sie blieb aber höflich und hilfsbereit und versuchte, sich ihre Gereiztheit nicht anmerken zu lassen.
Zunächst erzählte sie den Polizisten, dass sie sich nicht vorstellen könne, überhaupt noch etwas Neues zu berichten. Über sie seien nach der Wende Horden von Journalisten und Reportern hergefallen und alle hätten die gleichen Fragen gestellt, die
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