Messewalzer
hielt sich in Grenzen. Kroll war für seinen unkonventionellen Ermittlungsstil bekannt, der nicht immer mit den Vorschriften übereinstimmte. »Na, dann warten wir mal ab!«
»Wir kriegen das Ergebnis noch heute. Die ziehen das vor! Nett von denen, oder?«
Als sie wieder in ihrem Büro waren, blätterte Kroll lustlos in den Akten, die vor ihm auf dem Schreibtisch lagen. »Ich klingel mal Oskar in Berlin an.« Er drückte die Lautsprechertaste seines Telefons und wählte die Handynummer von Oskar Jäger.
»Hallo, Kroll«, flüsterte der Kollege. »Bleib kurz dran. Ich geh mal eben auf den Flur.« Nach wenigen Sekunden war die Stimme lauter zu vernehmen. »So, jetzt kann ich reden. Was gibt’s?«
»Das wollten wir eigentlich dich fragen.«
»Die Akten über Lars Ehrentraut sind supergut sortiert. Kein Wunder. Da war wahrscheinlich bereits die gesammelte Presse dran. Das erleichtert die Arbeit natürlich ungemein. Du kannst dir nicht vorstellen, wie viele Akten hier rumliegen. Das ist noch schlimmer als bei uns!«
Kroll trommelte ungeduldig mit den Fingern auf dem Schreibtisch. »Hast du etwas herausgefunden?«
»Der ganze Fall Lars Ehrentraut ist äußerst mysteriös. Das ist alles kaum zu glauben. Die Stasi hatte zum Teil über 50 Leute auf ihn angesetzt … als er schon im Westen war! Und wisst ihr, was ebenso erstaunlich ist? Als der Ehrentraut in den Westen rübergemacht hatte, hatten die von der Stasi sogar einen ›Romeo‹ angeheuert, der sich an die Ehefrau ranmachte, die noch in der DDR wohnte. Das alles nur, um an Informationen heranzukommen. Das ist wirklich unglaublich!«
»Kannst du uns etwas sagen, das uns weiterhilft?«, fragte Wiggins unverblümt.
»Ich kann das nicht beurteilen. In den Akten ist eine Notiz, dass am Tage nach Ehrentrauts Tod ein Mitarbeiter der Stasi 500 Westmark erhalten hat. Ein ziemlich hoher Betrag für die damaligen Verhältnisse. Die vermuten hier, dass das Geld der Lohn für die Verblendung des Fußballers war. Aber Genaues wissen die auch nicht. Die Unterlagen sind alles andere als vollständig. Die hier in Berlin gehen davon aus, dass nur circa 40 Prozent des Aktenmaterials erhalten ist, wenn überhaupt.«
»Und an wen wurde das Geld gezahlt?«, wollte Kroll wissen.
»An einen gewissen Kohlhaas, das ist natürlich ein Deckname.«
»Kohlhaas …«, wiederholte Kroll nachdenklich. Er sah zu Wiggins herüber, der auch nur mit den Schultern zuckte. Kroll drehte sich wieder zum Telefon. »O.K., Oskar. Mach weiter. Bitte ruf uns sofort an, wenn du etwas herausgefunden hast, das uns weiterhilft.«
»Mach ich, Kollegen. Bis bald!«
Kroll rieb sich die Augen. »Was bitteschön fällt dir zu Kohlhaas ein?«
»Eine Novelle von Kleist«, antwortete Wiggins wie ein Schüler im Unterricht. »Aber ich denke, um den Decknamen sollten wir uns nicht allzu viele Gedanken machen. Denk doch nur mal an die ganzen Politiker. Die hatten doch auch alle total bescheuerte Namen.«
Kroll wusste, dass Wiggins recht hatte. Trotzdem konnte er der Versuchung nicht widerstehen, doch irgendeinen Zusammenhang zu suchen. »Wovon handelt der Roman?«
»Die Novelle!«
»Komm, Wiggins, jetzt werd bloß nicht kleinlich! Also wovon handelt die Geschichte?«
Wiggins war nicht begeistert, über einen alten Text zu referieren, der nach seiner Auffassung überhaupt nichts mit dem Fall zu tun hatte. »Michael Kohlhaas war ein Pferdehändler aus Brandenburg, irgendwo an der Havel. Auf dem Weg zur Leipziger Messe wurden ihm zwei Pferde als Wegpfand abgenommen, und zwar vom Junker Wenzel. Später erfährt er, dass das rechtswidrig war. Er versucht, auf legalem Weg sein Recht zu bekommen, das klappt aber nicht. Als er seine Pferde endlich wiedersieht, sind sie abgemagert und abgearbeitet. Sein Knecht, der sich für ihn eingesetzt hatte, wurde gefoltert. Kohlhaas verlangt als Schadensersatz die Arztkosten für seinen Knecht und Futtergeld, um die Pferde wieder aufzupäppeln. Natürlich vergeblich … und somit gehen die Fehden los.«
»Klingt nach dem ewigen Kampf Recht gegen Unrecht!«, überlegte Kroll laut.
»Es gibt viele Interpretationen: Recht gegen Unrecht, der Schutz des Bürgers gegen einen willkürlichen Staat, oder ganz einfach das Recht auf Selbstjustiz gegen staatliches Unrecht.«
Kroll stellte die Kaffeemaschine an. »Na ja, passen würde das durchaus, zumindest aus Sicht der Stasi, wenn die davon ausging, dass die BRD ein willkürlicher Unrechtsstaat war.«
Wiggins schüttelte den Kopf.
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