Messias-Maschine: Roman (German Edition)
wollte, bezahlte ich ihn, damit er auf mich wartete, und stieg zu Fuß auf den Gipfel.
Von dort oben konnte man die ganze Insel überblicken, und man sah über die Meerenge hinweg bis weit ins Festland. Doch ich schaute nach Norden. Dort in der Ferne erkannte ich die kleinen Türmchen von Illyria City, die sich zwischen den kahlen Bergen und dem blauen Meer erhoben. Ich entdeckte auch den silbrigen Leuchtturm, der wie eine Schachfigur wirkte und der geheimnisvoll und seltsam verspielt überm Wasser schwebte – so anders als alles, was mich umgab, wie ein Raumschiff aus der Andromedagalaxie.
Ich konnte nicht dorthin zurückkehren. Die Polizei und die Doppel-O würden sich inzwischen einen Reim auf alles gemacht haben: den gestohlenen Syntec, das Geld, das ich von meinen Konten abgehoben hatte, meine Mitgliedschaft in der Holistischen Liga und in der AMG – all das kennzeichnete mich als gefährlichen Deserteur.
Aber ich wollte hinsehen und mich daran erinnern, dass es echt war und dass es dort immer noch Menschen gab, die ihr ganz normales Leben lebten: dass dort entlang der Promenaden die VR-Spielhallen blinkten und brummten, dass die U-Bahnen in den Hauptbahnhof einrauschten, dass die Schlagzeilen draußen am Nachrichtengebäude entlangflimmerten, dass die Sicherheitsroboter die Straßen mit ihren traurigen, leeren Augen beobachteten …
Schließlich waren alles in allem nur ein paar Monate vergangen.
Ich wandte den Blick von der Stadt ab und betrachtete den Rest des gewaltigen Panoramas, das sich unter mir erstreckte: das Meer, den Himmel, die menschlichen Siedlungen, die wie Spielwürfel verstreut lagen.
Irgendwo weiter oben an der Küste war der kleine Hain in Agios Konstantinos, den ich mit Ruth zusammen besucht hatte, als ich noch ein Kind gewesen war, und in dem ich eine Schildkröte gefunden hatte.
Ich schaute auf all das hinaus, doch ich gehörte nicht dazu. Es kam mir vor, als würde ich nie wieder dazu in der Lage sein, mich zugehörig zu fühlen.
Ich weiß noch, dass zwei illyrische Kampfflugzeuge geräuschlos über mich hinwegschossen. Das kalte Auge Illyriens starrte anklagend von ihren Rümpfen auf mich herab und schien ebenso zornig und unnachgiebig wie die Augen von Erzbischof Christophilos, die auf die verarmten Städte und Dörfer des Peloponnes herabstarrten.
»Es gibt keine Seele«, schienen die Kampfflugzeuge zu sagen, »nur das Messbare ist real …«
Dann drehten sie bei und sausten in eine andere Richtung davon, über die Berge hinweg ins Inland.
Als ich zurück in die Stadt kam, ging ich zur Post, um einen Anruf zu tätigen. Ich wollte mit Marija reden, aber als ich ihre Nummer wählte, meldete sich eine fremde Männerstimme am anderen Ende.
»Marija Mejic? Nein, die ist vor einem Monat ausgezogen. Nein, tut mir leid, ich habe keine Ahnung, wo sie hin ist.«
Widerwillig versuchte ich es mit einer anderen Nummer.
»Hallo«, erklang eine bekannte Stimme, zerbrechlich, künstlich hell. »Hier spricht Ruth Simling, Kleine Rose …«
Ich öffnete den Mund und stellte dann fest, dass ich ihr nichts zu sagen hatte.
Also legte ich auf.
Kapitel 58
H e! Blume! Wir gehen runter auf Ebene neun, komm doch mit!«
Fünf Gestalten standen in einer riesigen schwebenden Jakobsmuschel. Sie waren wunderschön, glänzendes Haar umwogte ihre Köpfe. Zwei waren ganz und gar nackt, die anderen trugen wundersam schillernde Gewänder, deren Farben ständig wechselten.
»Blume« schaute zu ihnen auf. Sie war zwei Meter groß und hatte betörend blaue Augen. Ihr Gewand war mit einem Muster bunter Vögel verziert, die sich eigenständig bewegten, mit den Flügeln schlugen und die Köpfe drehten, während sie um ihren Leib herumflogen.
»Ach nein, nicht die Neun. Die bin ich leid. Warum gehen immer alle auf Ebene neun?«
»Weil alle dorthin gehen, natürlich!«, erwiderte eine der nackten Gestalten lachend. Sie sah aus wie die Venus von Botticelli.
Die Jakobsmuschel verschwand mitsamt ihren Passagieren und tauchte dann wieder auf, verschwand und erschien erneut, verließ unentwegt die Welt und kehrte wieder zurück.
»Tja, ich gehe dort nicht hin«, schmollte Blume, wandte den Blick ab und ließ ihn in die Ferne schweifen, wo eine weitere Gruppe wunderschöner Menschen um einen gewaltigen goldenen Phönix herumtanzte, dessen verwegenes, schnabelbewehrtes Profil aus hell lodernden Flammen auf sie herabschaute.
»Na schön, wenn du eine Spielverderberin sein willst«, sagte Venus
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