MetaGame: Science-Fiction Thriller (German Edition)
gab Früchte im Übermaß, und die Jagd war reichlich. Aber eines Tages kamen die Königin der Sternenschwestern und der König der Söhne zum Entschluss, dass sie den Hirsch nicht mehr benötigten.
Lily nahm einen herrischen Tonfall an, als sie die Charaktere ihrer Geschichte zitierte: »›Das Fell des Hirschs wird eine schöne Decke ergeben, die mich des Nachts wärmen wird‹, sagte die Königin. Und der König sagte: ›Der Kopf des Hirschs wird eine schöne Trophäe über meinem Thron ergeben.‹«
Daraufhin erzählte Lily, wie eine Schar der besten Jäger aus beiden Stämmen die mächtige Kreatur zur Strecke brachte, und die Königin erhielt ihr Fell, und der König erhielt seine Trophäe. Was sie jedoch nicht wussten, war, dass der Hirsch der wahre Lebensbringer des Waldes war. Mit seinem Atem ließ er die Früchte wachsen und die Jagd üppig werden. Und so verdorrten in seiner Abwesenheit die Früchte, und das Wild verschwand, und die Menschen der Stämme verhungerten nach und nach.
Lily neigte den Kopf und hob die Brauen. »Und nachdem viele gestorben waren, wurde der Hirsch wiedergeboren und kehrte zurück. Die Stämme bettelten den Hirsch an, sie zu retten, und er war einverstanden, aber die Stämme mussten für das bezahlen, was sie getan hatten. Von nun an auf ewig wurden in jedem Mond eine Frau vom Stamm der Sternenschwestern und ein Mann vom Stamm der Söhne auserwählt undmussten rennen und wurden gejagt, wie der große Hirsch selbst gejagt worden war. Einige kehrten zum nächsten Mond zurück, und einige nicht.«
»Das ist schrecklich«, sagte D_Light. »Lily, du weißt, dass das eine Lüge ist. Ich meine, ein Mythos, nicht wahr?«
»Ja, das weiß ich«, sagte sie. Und dann fügte sie etwas leiser hinzu: »Ich weiß das
jetzt.«
»Wie wählt dein Stamm aus? Wählt, wer gejagt werden muss, meine ich?«, fragte D_Light.
»Jeder Stamm hat eine Älteste, die auswählt, obwohl es oft Freiwillige gibt.«
»Freiwillige?
Wer würde sich freiwillig melden?«, fragte D_Light ungläubig.
»Menschen, die ein besseres Leben wollen. Menschen wie ich.« Sie lächelte schwach und senkte den Kopf. Während D_Light Lily betrachtete, wie sie reglos neben ihm auf dem Rasen saß, die wohlgeformten Beine fest an den Leib gezogen, dachte er, dass sie selbst eine Statue zu sein schien und die Fotoblumen weiche Schatten an alle richtigen Stellen warfen. Sie war eine Statue der Unschuld und Tugend, ein Kunstwerk, von dem er sich nicht losreißen konnte.
Nach einer sehr langen Pause nahm Lily den Faden ihrer Geschichte wieder auf. »Jedes Mal, wenn eine von uns losläuft, dürfen wir einen Stein mit unserem Zeichen in einen Krug werfen. Alle vier Jahre greift die Älteste in den Krug und holt einen Stein heraus. Wenn es deiner ist, wird dich der große Hirsch retten.«
»Ein Lotteriespiel«, flüsterte D_Light.
Sie zuckte die Achseln. »Ja, also sind deine Chancen zur Rettung umso größer, je häufiger du läufst.«
Das verstand D_Light. Es unterschied sich nicht vom Spiel. Je höher dein Punktestand im Leben ist, desto besser stehen die Chancen dafür, einer der Auserwählten zu werden – einer der Unsterblichen. Diese eine Tatsache war die grundlegende Strömung, die jede Handlung eines jedenSpielers an jedem Tag bestimmte. »Glaube es oder glaube es nicht, so sehr unterscheiden wir uns nicht, du und ich«, sagte er zu ihr.
Lily verspürte ein unerklärliches Verlangen, D_Light alles von sich zu erzählen, was es zu wissen gab, obwohl es allem zuwiderlief, was ihr über die Menschen beigebracht worden war. Sie wollte weitermachen und ihm erzählen, dass sie nach ihrer Wahl nicht mehr im gleichen Bau wie ihre Schwestern und Töchter hatte schlafen dürfen, dass sie allein schlafen musste. Sie wollte über die beiden Nächte nach dem Lotteriespiel sprechen, dass sie von der Ältesten geweckt worden war, die sie schweigend stundenlang durch den Wald geleitet hatte, bis zu einer Höhle, wo sie meilenweit im Dunkeln weitergezogen waren und nur eine winzige Lampe als Beleuchtung dabei gehabt hatten. Sie wollte die Erinnerung daran teilen, wie sie am anderen Ende der Höhle herausgekommen und in einer völlig anderen Welt gewesen waren, einer Welt mit wunderbaren Bäumen und wunderschönen Blumen, einem Paradies, wo sie vermutlich den verzeihenden Hirsch treffen sollte, der freundlich und liebevoll zu ihr spräche. Und sie wollte D_Light ihre Gefühle der Enttäuschung und Verzweiflung mitteilen, als ihr Gott nie
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