Metro2033
dass er noch lebte, und die klebrigen Gedanken zu verscheuchen, dass er nicht mehr atmet und kein Puls mehr zu fühlen ist. Etwas ganz anderes war es dagegen, die Hand eines Toten anzufassen. Und was dann? Wenn Bourbon schon bei der Frage der Entlohnung gelogen hatte, konnte er die Freunde, die ihn hier angeblich erwarteten, ebenso gut erfunden haben. Dann wäre Artjom, wenn er plötzlich eine unbekannte Leiche heranschaffte, in einer noch schlechteren Lage. Nach langem Grübeln fragte er Khan: »Was macht ihr hier mit denen, die sterben?«
»Was meinst du, mein Freund? Sprichst du von den Seelen oder von ihren vergänglichen Körpern?«
»Ich meine die Leichen«, brummte Artjom, dem das ganze Geschwätz vom Jenseits allmählich auf die Nerven ging.
»Zwischen dem Prospekt Mira und der Sucharewskaja gibt es zwei Tunnel, aber nur durch einen kommt man hindurch. Im zweiten Tunnel hat sich nämlich unweit unserer Station die Erde gesenkt, der Boden ist eingebrochen, und jetzt ist dort ein tiefer Abgrund, in den, wie es heißt, einmal ein ganzer Zug gestürzt sein soll. Steht man an diesem Abgrund, so ist der gegenüberliegende Rand nicht sichtbar, und selbst das Licht der stärksten Taschenlampe reicht nicht bis auf den Grund. Deshalb verbreiten einige Schwätzer gerne das Gerücht vom bodenlosen Abgrund. Das ist unser Friedhof. Dorthin schaffen wir all die >Leichen<, wie du sie nennst.«
Artjom gefiel der Gedanke nicht, dorthin zurückkehren zu müssen, wo Khan ihn aufgefunden hatte, Bourbons schon leicht angenagte Leiche herzuschleppen, durch die Station zu tragen und bis zu diesem Abgrund zu schaffen. Er redete sich ein, es sei doch einerlei, ob er den Toten in ein Loch werfe oder im Tunnel zurücklasse - von einer Beisetzung könne man sowieso nicht sprechen. Doch als er schon fast überzeugt war, dass er am besten alles so ließ, wie es war, sah er plötzlich mit erschütternder Deutlichkeit Bourbons Gesicht vor sich, wie er sagte: >Ich bin tot.< Artjom spürte, wie ihm der Schweiß ausbrach. Mühsam erhob er sich, warf sich das neue Gewehr über die Schulter und sagte: »Ich gehe dann jetzt. Ich habe es ihm versprochen. Wir hatten eine Abmachung. Es muss sein.« Mit steifen Beinen stakste er durch die Halle zu der Eisenleiter, die vom Bahnsteig auf die Gleise führte.
Noch vor dem Abstieg musste er seine Lampe einschalten. Nachdem er die Stufen hinabgepoltert war, verharrte er einen Augenblick unentschlossen. Ein schwerer, nach Fäulnis riechender Luftzug wehte ihm ins Gesicht. Einen Moment lang weigerten sich seine Muskeln zu gehorchen, sosehr er sich auch bemühte, den nächsten Schritt zu machen. Dann, als er schließlich Angst und Ekel überwand und losgehen wollte, spürte er, wie sich ihm eine schwere Hand auf die Schulter legte. Vor Überraschung schrie er auf und fuhr herum. Etwas in ihm krampfte sich zusammen, er wusste, er würde es nicht schaffen, seine Kalaschnikow von der Schulter zu holen, nichts würde er mehr schaffen ...
Es war Khan.
»Hab keine Angst«, sagte er beruhigend zu Artjom. »Ich habe dich nur geprüft. Du musst nicht mehr dorthin. Der Körper deines Kameraden ist nicht mehr da.«
Artjom sah ihn verständnislos an.
»Während du schliefst, habe ich einen Bestattungsritus zelebriert. Es gibt keinen Grund mehr für dich, dorthin zu gehen. Der Tunnel ist leer.« Khan drehte Artjom den Rücken zu und ging langsam wieder zurück zu den Rundbögen.
Zutiefst erleichtert beeilte sich Artjom ihm zu folgen. Mit zehn Schritten hatte er ihn eingeholt und fragte erregt: »Aber warum haben Sie das getan und mir nichts gesagt? Sie meinten doch, es sei egal, ob er im Tunnel bleibt oder zur Station gebracht wird.«
Khan zuckte mit den Schultern. »Für mich ist es tatsächlich bedeutungslos. Aber für dich war es wichtig. Ich weiß, dass deine Reise ein Ziel hat und dass dein Weg lang und steinig ist. Ich weiß nicht, was genau deine Mission ist, aber diese Bürde ist zu schwer für dich allein, und deshalb habe ich beschlossen, dir wenigstens bei einer Sache zu helfen.« Er blickte Artjom lächelnd an.
Als sie an das Feuer zurückkamen und sich auf der zerknitterten Zeltplane niederließen, hielt es Artjom nicht mehr länger aus. »Was meinen Sie mit Mission? Habe ich im Schlaf gesprochen?«
»Nein, mein Freund, du hast im Schlaf geschwiegen. Aber ich habe eine Erscheinung gehabt. Ein Mann hat mich darin um Hilfe gebeten. Mir wurde dein Kommen angekündigt, und deshalb bin ich dir
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