Metro2033
es nicht mehr zu ihren aufgestapelten Gewehren geschafft hatten. »Kein Blutvergießen«, sagte Khan ruhig, und seine Stimme bat nicht, sondern befahl. »Hier gibt es Regeln, Artjom.« Dabei ließ er die drei lebenden Kampfmaschinen nicht aus dem Auge, die ihrerseits ohne Zweifel wussten, welche Durchschlagskraft eine Kalaschnikow auf diese Entfernung entwickelte, und Khan offensichtlich nicht reizen wollten. »Diese Regeln verpflichten uns, bei Betreten der Station eine Gebühr zu bezahlen. Wie hoch ist unser Beitrag?«
»Drei Kugeln pro Nase«, sagte der auf der Brücke.
»Da geht doch noch was«, bemerkte Artjom und richtete den Lauf seiner Waffe auf die Lendengegend des Gorillas.
»Zwei«, stimmte jener zu, starrte Artjom böse an, wagte aber nicht, etwas zu unternehmen.
»Zahl ihn aus«, sagte Khan zu Tus. »Dann sind wir quitt.« Bereitwillig wühlte Tus in den Tiefen seiner Tasche, trat an den Wachmann heran und zählte ihm sechs glänzende, spitz zulaufende Patronen in die Hand. Der Wachmann schloss eilig die Faust und schüttete die Patronen in seine ausgebeulte Jackentasche. Dann hob er die Arme wieder und sah Khan abwartend an.
Dieser hob fragend eine Augenbraue. »Ist die Gebühr damit bezahlt?« Der Dicke nickte finster, ohne die Waffe aus den Augen zu lassen. »Und der Vorfall damit erledigt?«
Der Gorilla schwieg. Khan entnahm dem Ersatzmagazin, das mit Isolierband am Hauptmagazin befestigt war, fünf Patronen und ließ sie in die Tasche des Mannes fallen. Das leichte Klirren glättete dessen angespannte Grimasse, so dass sie wieder ihren üblichen, trägen und herablassenden Ausdruck annahm.
»Entschädigung für den moralischen Verlust«, erklärte Khan, doch seine Worte blieben ohne jede Reaktion. Allein Geld und Gewalt schienen eine dem Hünen verständliche Sprache zu sprechen.
»Du kannst die Hände herunternehmen«, sagte Khan und hob den Lauf seines Gewehrs, mit dem er die Spieler in Schach gehalten hatte.
Artjom tat dasselbe, doch seine Hände zuckten nervös. Er war bereit, den rasierten Schädel des Gorillas jederzeit wieder ins Visier zu nehmen. Er traute diesen Leuten nicht. Aber seine Aufregung war unnötig: Der Wachmann ließ die Arme entspannt hängen und brummte den anderen zu, es sei alles in Ordnung. Dann lehnte er sich mit dem Rücken gegen die Wand und ließ mit übertrieben gleichgültiger Miene die Reisenden passieren.
Als Artjom an ihm vorbeiging, nahm er noch einmal allen Mut zusammen und blickte ihm in die Augen, doch der Gorilla nahm die Herausforderung nicht an und sah auf einen Punkt in der Ferne. Einige Schritte weiter hörte Artjom jedoch, wie jemand verächtlich »Grünschnabel« sagte und dann schmatzend auf den Boden spie. Schon wollte er sich umdrehen, doch Khan, der einen Schritt vorausging, packte ihn am Arm und zog ihn mit sich. Artjom verspürte eine Mischung aus Ärger darüber, diese Beleidigung schlucken zu müssen, und Erleichterung, dass er sich der Herausforderung nicht zu stellen brauchte.
Sie hatten bereits den Granitboden der Station betreten, als von hinten ein gedehnter Ruf ertönte: »Hee, gib mir die Kanone zurück!«
Khan blieb stehen, schüttelte die länglichen Patronen mit den abgerundeten Kugeln aus dem Magazin der TT, steckte Letzteres wieder hinein und warf dem Dicken die Pistole zu. Dieser fing sie geschickt auf und steckte sie sich routiniert in die Hose, während er verärgert zusah, wie Khan die Patronen auf dem Boden verstreute.
»Entschuldige.« Khan breitete die Arme aus. »Nur eine Vorsichtsmaßnahme. So heißt das doch, nicht wahr?« Er zwinkerte Tus zu.
Kitai-gorod unterschied sich von allen übrigen Stationen, die Artjom bisher gesehen hatte. Der große zentrale Saal vermittelte auf fast unheimliche Weise einen Eindruck ungewöhnlicher Weite. Nur an wenigen Stellen wurde er von herabhängenden Glühbirnen beleuchtet, Feuer gab es nirgends, offenbar war dies hier verboten. In der Mitte des Saals verströmte jedoch eine weiße Quecksilberlampe ihr großzügiges Licht, was Artjom wie ein Wunder vorkam. Aber das Getümmel, das um ihn herrschte, lenkte ihn so sehr ab, dass er nicht viel Zeit hatte, sich dieses Kuriosum anzusehen. »Was für eine riesige Station«, stieß er erstaunt hervor.
»Tatsächlich siehst du hier nur die Hälfte«, sagte Khan, während er sich umsah und die umhereilenden Menschen beobachtete. »Kitai-gorod ist genau genommen doppelt so groß. Oh ja, es ist einer der seltsamsten Orte in der Metro. Du
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