Metro2033
Intuition, und weiterlaufen, solange es sie noch nicht erreicht hatte.
Der Gedanke widerte ihn an, aber der Ärger über Tus, der noch immer auf den Gleisen lag und dumpf vor sich hin stöhnte, war stärker und brachte die Stimme des Gewissens völlig zum Verstummen. Er empfand sogar eine gewisse Enttäuschung, als Khan zurückstürzte und dem Bärtigen mit einer kraftvollen Bewegung auf die Beine half - insgeheim hatte Artjom gehofft, dass Khan mit seiner Verachtung für alles fremde Leben und Sterben den Mann einfach im Tunnel zurücklassen würde.
Khan jedoch befahl Artjom mit trockener Stimme, den hinkenden Tus auf der einen Seite zu stützen, packte ihn auf der anderen am Arm und zog beide mit sich. Nun fiel das Laufen noch schwerer. Tus stöhnte und knirschte bei jedem Schritt vor Schmerz mit den Zähnen, aber Artjom empfand für ihn nichts außer wachsendem Ärger. Sein langes, schweres Sturmgewehr schlug ihm schmerzhaft gegen die Beine, denn er hatte keine Hand frei, um es festzuhalten. Außerdem bedrückte ihn ein Gefühl, als ob er irgendwohin zu spät kam. All dies zusammen erzeugte nicht etwa Angst vor dem schwarzen Vakuum hinter ihnen, sondern Wut und Trotz ...
Der Tod war nun ganz nah. Artjom brauchte nur stehen zu bleiben und eine halbe Minute abzuwarten, und der unheilvolle Wirbel würde ihn erreichen, fortschleudern, in tausend Teile zerfetzen. Innerhalb weniger Sekundenbruchteile würde er aus diesem Universum verschwinden. Doch diese Gedanken lähmten ihn nicht, nein, sie gaben ihm - verstärkt durch seine Wut und seinen Ärger - neue Kraft, die sich mit jedem Schritt nur noch vergrößerte.
Und dann war es plötzlich vorbei. Verschwunden. Das Gefühl der Gefahr hörte so unmittelbar auf, dass es in Artjoms Bewusstsein einen seltsam leeren, gleichsam unbesetzten Platz zurückließ, als hätte man ihm einen schmerzenden Zahn gezogen. Er blieb stehen, wie um mit der Zungenspitze das entstandene Loch zu befühlen. Hinter ihnen war nichts mehr, einfach ein Tunnel - sauber, trocken, frei, völlig ungefährlich. All dieses Gerenne, die ganzen Ängste und paranoiden Fantasien, der überflüssige Glaube an irgendwelche besonderen Gefühle oder die Intuition kamen Artjom jetzt so lächerlich, dumm und absurd vor, dass er unwillkürlich laut loslachte. Tus, der neben ihm stand, sah ihn zuerst erstaunt an, doch dann verzog sich auch sein Gesicht zu einem Grinsen, und er lachte ebenfalls los.
Khan betrachtete die beiden unzufrieden und stieß schließlich hervor: »Na, geht's euch gut? Schön ist es hier, nicht wahr? So ruhig und sauber!« Er ging allein weiter.
Erst jetzt begriff Artjom, dass am Ende des Tunnels deutlich Licht zu sehen war und sie vielleicht noch fünfzig Schritte bis zur nächsten Station gehen mussten.
Khan erwartete sie am Eingang auf der Stahltreppe. Während Artjom und Tus immer wieder lachend und völlig entspannt die letzten fünfzig Meter zurücklegten, hatte er bereits eine aus irgendeinem Kraut gedrehte Zigarette geraucht.
Artjom empfand inzwischen so etwas wie Sympathie und Mitgefühl für den hinkenden, durch das Gelächter hindurch stöhnenden Tus. Er schämte sich seiner Gedanken von vorhin, als Tus gestürzt war. Nun war er wieder bestens gelaunt, und Khans erschöpfter, ausgemergelter Zustand und dessen seltsam verächtlichen Blicke erschienen ihm sogar ein wenig unangenehm.
»Danke!«, rief Tus, während er die Treppe zu Khan hinaufstampfte. »Wenn du ... Wenn ihr nicht gewesen wärt, wäre es mit mir zu Ende gegangen. Aber ihr habt mich nicht zurückgelassen. Danke! So etwas vergesse ich nicht.«
»Nichts zu danken«, entgegnete Khan ohne jegliche Regung.
»Aber warum habt ihr mich mitgenommen?«, fragte der Bärtige.
Khan warf die Kippe zu Boden und zuckte mit den Schultern. »Du interessierst mich als Gesprächspartner. Mehr nicht.«
Kaum stand Artjom auf der Treppe, da begriff er, warum Khan nicht auf den Gleisen geblieben war. Kurz vor der Einfahrt zur Station Kitai-gorod hatte man auf den Gleisen einen mannshohen Haufen Sandsäcke aufgestapelt. Dahinter hockten auf hölzernen Schemeln drei Männer, deren Äußeres ihm einigen Respekt einflößte. Kurz geschorene Haare, breite Schultern unter abgewetzten Lederjacken, dazu abgetragene Trainingshosen im Uniformlook. Mit Schwung knallten sie gerade ihre Spielkarten auf einen vierten Schemel in der Mitte. Dabei fluchten sie so sehr, dass Artjom ihrem Gespräch kein einziges anständiges Wort entnehmen
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