Metro2033
seine Frage sämtliche Sehnen des Alten durchgeschnitten. Er sackte in sich zusammen und erwiderte gedehnt, mit leiser, lebloser Stimme: »Ich glaube nicht. Ich glaube nicht.«
»Aber es soll doch noch andere Untergrundbahnen geben, habe ich gehört. In St. Petersburg, Minsk, Nowgorod.« Artjom zählte diese Namen aus dem Gedächtnis auf, denn für ihn waren sie nichts als eine leere Hülle, eine Schale, die sich nie mit Bedeutung gefüllt hatte.
Michail Porfirjewitsch seufzte tief. »Ach, was für eine schöne Stadt war doch Petersburg! Die Isaakskathedrale ... und die Admiralität, dieser spitze Turm ... Welche Grazie, welche Eleganz! Und abends auf dem Newski-Prospekt: Menschen, das Lärmen der Menge, Gelächter, Kinder mit Eis in der Hand, junge, schlanke Mädchen, Musik ... Im Sommer vor allem, dort ist ja selten gutes Wetter im Sommer, aber wenn die Sonne scheint und der Himmel blitzblank ist, azurblau ... dann, wissen Sie, atmet es sich leicht.« Seine Augen waren auf Artjom gerichtet, doch sein Blick ging durch ihn hindurch, richtete sich auf eine geisterhafte Ferne, wo im frühmorgendlichen Nebel die halb transparenten, herrschaftlichen Silhouetten jener Gebäude auftauchten, die nun zu Staub zerfallen waren. Artjom hatte das Gefühl, wenn er sich jetzt umdrehte, würde er dieses atemberaubenden Bildes ansichtig. Der Alte seufzte wieder, und Artjom wagte es nicht, ihn aus seinen Erinnerungen herauszureißen. »Ja, es hat neben der Moskauer tatsächlich noch andere Metros gegeben. Vielleicht haben sich auch dort Menschen retten können. Aber denken Sie einmal nach, junger Mann!« Michail Porfirjewitsch hob seinen knotigen Finger. »Wie viele Jahre sind bereits vergangen, und nichts ist passiert. Keine Menschenseele! Hätte man nach so langer Zeit nicht jemanden finden müssen? Nein, ich fürchte ...« Michail Porfirjewitsch schwieg lange, und dann, nach vielleicht fünf Minuten, sagte er eher zu sich selbst als zu Artjom: »Mein Gott, welch wunderschöne Welt wir zerstört haben!«
Eine schwere Stille breitete sich im Zelt aus. Wanetschka war von ihrem leisen Gespräch müde geworden und schlief mit offenem Mund. Er schnarchte leicht und winselte von Zeit zu Zeit leise wie ein Hund. Michail Porfirjewitsch sprach kein Wort mehr, und obwohl Artjom sicher war, dass er noch nicht schlief, ließ er ihn in Ruhe, schloss die Augen, versuchte zu schlafen.
Er dachte, nach all dem, was ihm an diesem endlosen Tag widerfahren war, würde ihn der Schlaf augenblicklich übermannen, doch die Zeit verging immer langsamer, die Matratze, die vor Kurzem noch so weich schien, drückte ihm in die Seite, so dass er sich einige Male hin und her wälzen musste, bis er endlich eine bequeme Position gefunden hatte. Und in seinen Ohren pochten noch immer die letzten traurigen Worte des Alten: Nein ... Ich glaube nicht ... Wir werden sie nicht wiederbekommen, die glänzenden Prachtstraßen, die grandiosen Bauten, den leichten, erfrischenden Wind an einem lauen Sommerabend, der durchs Haar fährt und das Gesicht streichelt, und auch der Himmel wird nie wieder so sein wie früher. Nun war ihr Himmel die von verrottenden Leitungen durchzogene, nach oben hin zulaufende, gerippte Decke der Tunnel, und so würde es immer sein. Damals war er - wie gewesen? Azurblau? Rein? Ein seltsamer Himmel war das, ganz so, wie ihn Artjom gesehen hatte, am Botanischen Garten, sternenübersät, aber nicht samtblau, sondern hellblau, funkelnd, freudig ... Und die Gebäude waren tatsächlich riesig, doch erdrückten sie einen nicht mit ihrer Masse, nein, sie waren hell und leicht, gleichsam aus süßer Luft gewoben, sie schwebten, schon fast losgelöst vom Boden, und ihre Umrisse verschwammen in der endlosen Höhe. Und wie viele Menschen hier waren! Artjom hatte niemals so viele Menschen auf einmal gesehen, höchstens in Kitai-gorod, doch hier waren es noch mehr, der ganze Raum am Fuße dieser zyklopischen Gebäude sowie dazwischen war von Menschen besetzt. Sie wimmelten umher, und tatsächlich waren ungewöhnlich viele Kinder darunter, die etwas aßen, wohl ebenjenes Eis. Artjom wollte schon eines von ihnen bitten, ihn mal probieren zu lassen, denn er hatte selbst nie echtes Eis gegessen.
Doch die kleinen Kinder, die ihre Süßigkeit leckten, liefen ständig lachend vor ihm davon, wichen ihm geschickt aus, so dass er nicht einmal eines ihrer Gesichter erblicken konnte. Artjom wusste nicht mehr, was er eigentlich wollte: ein Eis probieren oder einem Kind
Weitere Kostenlose Bücher