Metro2033
gehört, was vorgestern passiert ist? So eine Ratte« - nun breitete sie die Arme aus - »soll da plötzlich aus einem Verbindungsgang herausgeschossen sein und einen Passagier fortgeschleift haben.«
»Das war doch keine Ratte!«, mischte sich ein kleiner Mann, der eine Wattejacke trug, von hinten ein. »Ein Mutan war das! An der Kurskaja, da tauchen ständig diese Mutane auf.«
»Und ich sag, es war eine Ratte!«, erwiderte die Frau entrüstet. »Ich hab's von Nina Prokofjewna, meiner Nachbarin. Die muss es ja wissen!«
Sie stritten noch lange, doch Artjom hörte ihnen nicht weiter zu. Wieder kehrten seine Gedanken zur WDNCh zurück. Er war fest entschlossen: Bevor er an die Oberfläche ging, um mit Ulman den Ostankino-Turm zu besteigen, würde er versuchen, zu seiner Heimatstation durchzukommen. Noch wusste er nicht, wie er seinen Partner von dieser Notwendigkeit überzeugen würde, doch hatte er das ungute Gefühl, dass er nur noch diese eine Chance hatte, sein Zuhause und diejenigen, die er liebte, noch einmal zu sehen, bevor er nach oben ging. Und diese Chance durfte er nicht ungenutzt lassen - wer wusste, was danach kam? Auch wenn Melnik behauptet hatte, dass ihre Aufgabe leicht zu bewältigen war, glaubte Artjom nicht, dass er ihn jemals wiedersehen würde. Vor seinem vielleicht letzten Aufstieg musste er unbedingt wenigstens für kurze Zeit zurück zur WDNCh.
We-De-En-Cha ... Das klang so melodisch, fast zärtlich. Ich könnte mir das ewig anhören, dachte Artjom. Sollte der zufällige Bekannte von der Belorusskaja tatsächlich recht gehabt haben und ihre Station kurz vor dem Untergang stehen? War wirklich bereits die Hälfte der Verteidiger umgekommen? Wie lange war er fort gewesen? Zwei Wochen? Drei? Er schloss die Augen und versuchte sich sein geliebtes Gewölbe, die eleganten, aber unaufdringlichen Bogenlinien, die schmiedeeisernen Gitter der Belüftungsschächte und die Zeltreihen im Saal vorzustellen. Dort war Schenjas Zelt, und hier, etwas näher, sein eigenes ...
Die Draisine schaukelte sanft zum Takt der schlagenden Räder, und schließlich übermannte Artjom, ohne dass er es merkte, der Schlaf.
Wieder träumte er, er sei an der WDNCh. Diesmal wunderte er sich jedoch über nichts mehr, horchte nicht und versuchte nicht zu begreifen. Das Ziel seines Traums befand sich nicht an der Station, sondern im Tunnel, daran erinnerte er sich genau. Er verließ das Zelt und ging sofort zu den Gleisen, sprang hinab und lief nach Norden, in Richtung Botanischer Garten. Nicht die absolute Finsternis machte ihm Angst, sondern die bevorstehende Begegnung im Tunnel. Was erwartete ihn dort? Worin lag der Sinn dieses Ereignisses? Warum fehlte ihm jedes Mal der Mut, bis zum Ende durchzuhalten?
Endlich tauchte sein Doppelgänger in der Ferne auf. Die weichen, selbstsicheren Schritte kamen näher, wie bei den letzten Malen, und Artjoms ganze Entschlossenheit war plötzlich dahin. Doch diesmal hielt er sich besser: Anfangs zitterten ihm zwar wieder die Knie, doch dann bekam Artjom sie in die Gewalt und hielt bis zu jenem Augenblick stand, als er sich direkt vor dem unsichtbaren Geschöpf befand. Kalter, klebriger Schweiß brach ihm aus, aber er blieb stehen, lief nicht weg, während ihm ein kaum spürbarer Lufthauch verriet, dass das geheimnisvolle Wesen nur wenige Zentimeter von seinem Gesicht entfernt war.
»Lauf nicht weg ... Sieh deinem Schicksal in die Augen«, flüsterte ihm eine trockene, raschelnde Stimme ins Ohr.
Und da erinnerte sich Artjom plötzlich - wie hatte er das in den vergangenen Träumen bloß vergessen können -, dass er ein Feuerzeug dabeihatte. Er ertastete den kleinen Plastikgegenstand, betätigte den Mechanismus und machte sich bereit, demjenigen, der zu ihm gesprochen hatte, ins Gesicht zu sehen.
Er erstarrte. Seine Beine schienen am Boden zu kleben.
Vor ihm stand, reglos, ein Schwarzer. Die weit geöffneten, dunklen, pupillenlosen Augen suchten seinen Blick.
Artjom schrie auf, so laut er konnte ...
»Jesus Maria!« Die Alte fasste sich ans Herz und atmete schwer. »Hast du mich jetzt erschreckt, Junge!«
Ulman drehte sich um und sagte entschuldigend: »Verzeihen Sie. Er ist... etwas nervös.«
»Was hast du denn geträumt, dass du so schreien musst?« Die Alte warf ihm unter ihren angeschwollenen, halb geschlossenen Lidern einen neugierigen Blick zu.
»Es war ein Albtraum«, erwiderte Artjom. »Entschuldigen Sie bitte.«
»Ein Albtraum? Ihr jungen Leute seid vielleicht
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