Meuterei auf der Elsinore
Finger war weg.«
»Herrgott!« rief ich. »Welch ein Pech, den Finger zu verlieren, wenn man durch eine so gräßliche Geschichte glücklich hindurchgekommen ist.«
»Ja, das dachte ich auch«, pflichtete Mellaire bei.
»Aber was taten Sie dann?« fragte ich.
»Na, ich guckte mir den Finger an, sagte ›lieber Gott!‹ oder so was und nahm noch einen Schnaps. Ich glaube, ich war so voll vom Alkohol, daß die Bakterien tot umfielen, sobald sie nur den Geruch spürten.« Er überlegte einen Augenblick. Dann fügte er hinzu: »Offen gestanden, Herr Pathurst, ich weiß nicht, ob diese Alkoholtheorie ganz richtig ist, denn der Alte und die beiden Bootsmänner waren auch besoffen, als sie starben, der dritte Meister auch.«
Ich werde mich nie mehr wundern, daß das Leben auf See hart macht.
Es ist etwas geschehen. Aber keiner weiß, was, weder vorn noch ‘ achtern – natürlich mit Ausnahme der Beteiligten, die aus verständlichen Gründen den Mund halten. Aber das Schiff ist mit Gerüchten und Vermutungen geladen.
Aber eines ist sicher: Pike hat einen furchtbaren Schlag auf den Kopf bekommen. Gestern kam ich wieder verspätet zum Lunch, und als ich hinter seinem Stuhl vorbeiging, sah ich eine furchtbare Beule an seinem Kopf. Als ich mich ihm gegenüber gesetzt hatte, bemerkte ich, daß seine Augen ganz betäubt aussahen, ja, ich konnte sogar Schmerz darin lesen. Er beteiligte sich nicht an der Unterhaltung, aß nachlässig und benahm sich, als ob er nicht ganz bei sich wäre. Es war ganz deutlich, daß er sich mit eiserner Kraft zusammennahm.
Und keiner hatte den Mut, ihn zu fragen. Ich weiß jedenfalls, daß ich nicht den Mut dazu aufbringen konnte. Dieser furchtbare Überrest aus vergangenen Tagen des Seemannslebens hat mir einen Respekt eingeflößt, der zur Hälfte aus Furcht, zur anderen Hälfte aus wirklicher Hochachtung gemischt ist. Er benimmt sich, als litte er an den Folgen einer Gehirnerschütterung. Daß er Schmerzen hat, ist unzweifelhaft, sein ganzes Benehmen, wenn er sich unbeobachtet glaubt, beweist es. Als ich heute nacht die Kajüte verließ, um einen Augenblick frische Luft zu schnappen und mir die Sterne anzusehen, stellte ich mich auf das große Deck unterhalb der Kampanje. Unmittelbar über meinem Kopf hörte ich ein leises Stöhnen, das nicht aufhören wollte. Lautlos schlich ich mich näher. Jetzt sah ich, daß es Pike war, der gestöhnt hatte – er lehnte sich ganz zusammengebrochen an den Kampanjebogen und stützte den Kopf in die Hände. Ungesehen von andern, machte er in der einsamen Nacht seinem Schmerz Luft.
Aber er führte seine Wache durch und kam seinen Pflichten als Offizier nach, als ob nichts geschehen wäre. Ich vergaß übrigens eines: Fräulein West wagte es, ihn zu fragen, und er antwortete ihr, daß er Zahnschmerzen habe.
Wada kann nicht herausbekommen, was geschehen ist. Er erzählt, der asiatische Kreis, der in der Kabine des Kochs die Sache eifrig diskutiert hat, sei der Ansicht, daß es die drei Banditen sind, die »das Ding gedreht« haben. Bert Rhine läuft nämlich mit einer gelähmten Schulter herum, Nasen-Murphy humpelt, und Bub Twist liegt krank in der Koje. Diese Tatsachen sind das einzige, woraus man sich etwas zusammenreimen kann. Die Banditen sind ebenso verschwiegen wie Pike. Die Asiaten sind aber zu dem Schluß gekommen, daß ein Mordversuch gemacht wurde, der nur daran scheiterte, daß der Schädel des Steuermanns zu hart war.
Gestern abend bekam ich einen neuen Beweis, daß Kapitän West in Wirklichkeit den Ereignissen auf der Elsinore gegenüber nicht so ganz gleichgültig ist, wie er tut. Ich war über die Laufbrücke bis zum Besanmast gegangen und stand in dessen Schatten, so daß man mich nicht gleich sehen konnte. Von dem engen Durchgang zwischen Mitschiffshaus und Finkennetzreling am Großdeck unten hörte ich die Stimmen Bert Rhines, Murphys und Mellaires. Sie unterhielten sich freundschaftlich, ja sogar vertraulich, denn ihre Stimmen hatten einen gemütlichen Klang, hin und wieder lachte einer, bisweilen alle drei. Ich dachte an den Bericht Wadas über den Verkehr des Untersteuermanns mit den Banditen und versuchte zu lauschen. Aber die Banditen sprachen sehr leise, ich konnte nur feststellen, daß die Unterhaltung äußerst freundschaftlich und vertraut vor sich ging.
Plötzlich hörte ich Kapitän Wests Stimme von der Kampanje her. Ich weiß, daß es mich durchschauerte, als ich sie hörte – sie war so wundervoll und doch so beherrscht
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