Meuterei auf der Elsinore
liebe ich es, das Buch wegzulegen und in dem dünnsten meiner Tropenpyjamas auf die Kampanje zu gehen.
Ich habe nie geahnt, was der Passat ist. Und jetzt hat er mich verzaubert. Ich spaziere zu dieser nächtlichen Zeit eine ganze Stunde auf und ab mit dem Steuermann, der gerade die Wache hat. Mellaire ist immer vollkommen angezogen, aber Pike trägt in diesen wunderbaren Nächten nur seinen Pyjama, wenn er die Wache nach Mitternacht übernimmt. Er ist einfach unheimlich muskulös. Eine wundervolle Männergestalt! Wie muß er in den strahlenden Tagen seiner Jugend vor mehr als einem Menschenalter ausgesehen haben!
Die Tage, die nur von einfacher Gewohnheitsarbeit erfüllt sind, gleiten wie im Traum dahin. Hier, wo die Zeit peinlich genau eingeteilt ist und jede Stunde und jede halbe Stunde einem unweigerlich zum Bewußtsein gebracht wird, hört trotzdem jeder Zeitbegriff auf. Die Tage gleiten ineinander über, die Wochen lösen sich unmerklich ab, ich meinerseits erinnere mich nicht, welchen Tag der Woche oder des Monats wir eigentlich haben.
Wie ich in diesem wunderbaren Wetter lese! Ich habe so wenig körperliche Bewegung, daß mein Bedarf an Schlaf nur sehr gering ist. Es gibt hier so wenig von den Unterbrechungen im Lesen, von denen es so viele an Land gibt, daß ich mich fast stumpfsinnig lese. Ich hole in dieser Beziehung das Versäumte vieler Jahre nach. Es ist eine wahre geistige Schlemmerei, ich bin überzeugt, daß unsere hohlköpfigen Matrosen mich für den Allerverrücktesten an Bord halten.
Bisweilen werde ich von dem vielen Lesen so wirr im Kopf, daß ich für jede Zerstreuung geradezu dankbar bin. Wenn wir in den stillen Gürtel zwischen Nordost- und Südostpassat kommen, werde ich mir von Wada meinen kleinen zweiundzwanzigkalibrigen Stutzen an Bord bringen lassen und versuchen, schießen zu lernen. Als kleiner Junge pflegte ich gern zu schießen. Ich erinnere mich, daß ich, wenn ich ins Gebirge ging, immer eine Schrotflinte mit mir schleppte.
Während die Kampanje reichlich Raum zum Spazierengehen bietet, kann man die Deckstühle nur unter den Sonnensegeln aufstellen, die zu beiden Seiten des Kartenhauses ausgespannt sind. Dieser Raum wird aber wiederum dadurch begrenzt, daß man je nach der Stellung der Sonne, der Frische des Windes, immer nur die eine oder die andere Seite benutzen kann. Deshalb kommt es von selbst, daß Fräulein Wests Stuhl fast immer neben dem meinen steht. Kapitän West hat natürlich auch einen Deckstuhl, er benutzt ihn aber nur sehr selten. Das Manövrieren des Schiffes und die täglichen Beobachtungen machen ihm so wenig Arbeit, daß er selten mehr als eine Stunde im Kartenhaus verweilt. Er sitzt lieber in der großen Kajüte, ohne etwas anderes zu tun, als mit offenen Augen zu träumen, während der frische Wind durch die offenen Lichtpforten hereinweht.
Fräulein West sehe ich jetzt sehr viel. Ich lese ihr oft vor – natürlich namentlich aus Büchern, die mir Gelegenheit geben, sie etwas auszuforschen. Dieses Vorlesen führt außerdem zu längeren Diskussionen, und ich muß betonen, daß sie bisher nichts geäußert hat, was meine ursprüngliche Auffassung von ihr irgendwie geändert hätte.
Sie ist eine reife Frau, mit der ganzen äußeren Sicherheit einer solchen, hat aber die Frische eines jungen Mädchens. Sie ist großzügig, zuverlässig, verständig, ja, und auch empfindungsfähig. Aber ihre überströmende Lebenskraft widerspricht der Reife ihres Wesens. Bisweilen kommt es mir vor, als müßte sie schon in den Dreißigern sein. Dann aber wieder, wenn ihre Lebensgeister und ihre Lachlust angeregt sind, scheint sie kaum dreizehn.
Und… ja, das darf ich nicht vergessen: Ich weiß jetzt, daß nicht das Interesse für einen fremden Mann – mit anderen Worten für mich – sie bewogen hat, die Reise mitzumachen. Sie hat es um ihres Vaters willen getan. Irgend etwas stimmt nicht bei ihm. Hin und wieder habe ich bemerkt, daß sie ihn mit Blicken betrachtet, die eine unbeschreibliche Sorge, eine rührende Liebe offenbaren. Gestern erzählte ich bei Tisch eine lustige Geschichte, als mein Blick zufällig auf Fräulein West fiel. Sie hatte gar nicht zugehört. Die Hand, mit der sie ihre Gabel zum Munde führte, blieb einen Augenblick unbeweglich in der Luft, während sie ihren Vater mit Augen anstarrte, die nichts sahen als ihn. Es war ein Blick voll tiefer Angst. Als sie merkte, daß ich sie beobachtete, ließ sie mit wundervoller Selbstbeherrschung die Hand ganz
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