Mexiko, mein anderes Leben (German Edition)
Gepäckstücke ein großes dreidimensionales Puzzle, das nur richtig angeordnet werden muss.
Bei dieser Puzzlearbeit durfte ich mich natürlich nicht beteiligen, was mir sehr recht war, konnte ich mich doch so vom Shoppen ausruhen und beschaulich meinen Kaffee trinken, bis Robert das Kommando gab, dass alles drin war. Immer wieder fand er beim nächsten Einkauf noch eine freie Lücke. Doch es kam der Tag, da vollendete sich das Puzzle und Robert musste resigniert feststellen, dass die Einkaufstour in San Diego beendet war. Wir hatten in unserem Jeep auch Getränke und Essen gelagert, denn wir würden ungefähr dreißig Stunden im Auto leben, nur auf uns gestellt. Kein Motel mit einem großen Bett, kein Fastfood-Restaurant, kein Wasser zum Waschen und keine Toilette. Robert hatte seine Cola und trockene Brötchen, ich dagegen etliche Flaschen Cappuccino, die mir gleichzeitig Essen und Trinken ersetzten. Außerdem hatten wir eine große Box mit feuchten Erfrischungstüchern, die als Toilettenpapier und als Waschlappen funktionieren mussten. Die Straße wartete auf uns und damit auch das Abenteuer. Wir befanden uns ganz dicht vor der Grenze in Chula Vista, dem letzten Bezirk von San Diego auf dem Weg nach Mexiko. Jeden Tag passierten um die zehntausend Menschen diese Grenze nach Tijuana. Manche fuhren sie mit Autos, aber auch viele Fußgänger pendelten hier jeden Tag zwischen diesen beiden Ländern. Für viele Amerikaner ist Tijuana ein Paradies für Alkohol, Drogen und Sex. Für die Mexikaner dagegen ist San Diego die begehrenswerte Stadt, wo sie Arbeit finden und sich so ihr nacktes Überleben sichern können. Es gibt kaum einen Platz in der Welt, wo die Gegensätze von reich und arm so hart aufeinanderprallen.
Wir fuhren reibungslos, ohne lange Wartezeiten über diese Grenze und waren plötzlich in einer anderen Welt. In Mexiko. Aber es war nicht das Mexiko der Urlauber. Es war ein Schock. Hinter uns die sauberen, organisierten USA und auf einmal befanden wir uns mitten in Schmutz, Dreck, Abfall und zwischen schäbigen Häusern und Hütten. Die hohe Kriminalitätsrate lag förmlich in der Luft. Da wir ganz früh, noch in der Morgendämmerung gestartet waren, erlebten wir diese Stadt von ihrer schlimmsten Seite. An den Straßenrändern lungerten viele Menschen noch vor ihren Lagerfeuern. Dort hatten sie die ganze Nacht verbracht, um gleich in den ersten Morgenstunden als arbeitsuchende Pendler über die Grenze nach San Diego zu laufen. Die ersten bekamen die besten Jobs. Als Helfer auf den Farmen oder Tellerwäscher in einem der vielen Fastfood-Restaurants. Sie arbeiteten für einen Hungerlohn, um dann die Nacht wieder vor ihrem Lagerfeuer auf den nächsten Morgen zu
warten. Männer, Frauen und Kinder. Die Kinder waren der schlimmste Anblick und oft wurden sie von ihren Eltern vorgeschickt, um zu betteln. Vermutlich wird keines dieser Kinder je im Leben die Chance bekommen, aus diesem Teufelskreis auszubrechen.
Wir versuchten, dieses Elend so schnell wie möglich hinter uns zu lassen. Das war nicht so einfach, denn immer wieder versperrten uns bettelnde Männer, Frauen und Kinder den Weg und hinderten uns an der Weiterfahrt. Meine Gefühle sprangen hin und her, zwischen Mitleid und Angst. Aber letztendlich siegte doch die Angst oder auch die Vernunft. Was hätte es gebracht, die Fensterscheibe runterzulassen und eine Cola oder einen Cappuccino zu verschenken und diesen Menschen, die nichts mehr zu verlieren hatten, gleichzeitig einen Blick in unser voll beladenes Auto zu gewähren? Vielleicht hätten wir dann nicht nur eine Cola gespendet, sondern unser ganzes Auto wäre geplündert worden. Die Aggressivität war in den Straßen Tijuanas zu sehen und zu spüren und wir wollten lieber nichts provozieren. Wollten einfach nur durch und hatten es auch bald geschafft. Es war ja noch fast dunkel an diesem Morgen und die einzigen Lichter, die an der Straße flackerten, waren diese Lagerfeuer, umringt von den unheimlichen Gestalten, von denen nur die Umrisse in der Dunkelheit zu erkennen waren. Meine Augen hatte ich geschlossen. Müde war ich nicht, aber ich wollte dieses Elend nicht mehr sehen.
Plötzlich fuhr Robert immer langsamer und hielt an. Vor uns auf der Straße lag etwas, das aussah wie ein Hund oder eine Ziege. In Mexiko passiert es sehr oft, dass Tiere überfahren werden und dann einfach tot auf der Straße liegenbleiben, bis sie sich nach
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