Mias verlorene Liebe
wahrscheinlich kein so abwegiger Gedanke, überlegte Mia.
„Kannst du dich an einen Zeitungsartikel vor sechs Monaten erinnern? In dem darüber berichtet wurde, dass man die Leiche einer Frau gefunden hatte – in einem Straßengraben in Cornwall?
Mia sah selten Fernsehen und las auch nicht regelmäßig die Zeitung. Aber sie erinnerte sich vage an die Berichterstattung über den Fund einer Frauenleiche, die als stark verwest und deshalb nicht identifizierbar beschrieben wurde.
„Soll das heißen …“ Mia musste sich räuspern. „Soll das heißen, mein Vater dachte …“
„Ja“, bestätigte Ethan. „Sobald er die Bilder im Fernsehen gesehen hatte, setzte sich William mit der Polizei in Verbindung. Er teilte ihnen mit, du wärest seit Jahren verschollen, und bat darum, den Körper sehen zu dürfen.“
„Und das hat die Polizei tatsächlich zugelassen?“
„Nein. Sie wollten erst eine Identifizierung anhand des Gebisses abwarten, bevor jemand den Körper sah. Aber … aber William ließ nicht locker, und so gelang es ihm schließlich – frag mich nicht, wie er das angestellt hat –, an Bilder von der Leiche heranzukommen.“
Gegen ihren Willen wurde Mias Blick wie magisch von dem Umschlag angezogen. „Und … und diese Fotos sind da drin?“
„Ein paar davon. Ja. Letztendlich stellte sich anhand zahnärztlicher Unterlagen heraus, dass es sich bei der Toten um jemand ganz anderen handelte, aber einen Tag und eine Nacht lang lebte William in der Angst, es könne sich um dich handeln.“
„Gib mir die Fotos, Ethan!“
„Da du mir jetzt endlich zuhörst, gibt es keinen Grund mehr, dir das anzutun.“
Mia fiel Ethan in den Arm, während er versuchte, die Fotos in die Tasche zurückzustecken. „Gib sie mir!“ Ihr Blick war jetzt fest und entschlossen. „Ich will mit eigenen Augen sehen, was mein Vater damals sah.“
„Wirklich, Mia … das hat doch keinen Sinn …“
„Wenn es so ist, wie du andeutest, und mein Vater nach dem Anblick dieser Fotos einen Herzinfarkt bekam, dann ist das doch wohl Grund genug.“
„Du hast recht. Eine halbe Stunde, nachdem er die Fotos gesehen hatte, brach er zusammen. Deshalb kann man mit Sicherheit davon ausgehen, dass der Schock – die Annahme, du wärest die Tote – der Auslöser war.“ Ethan konnte sich nur zu gut an die quälende Ungewissheit erinnern, während sie alle darauf warteten, zu erfahren, ob es sich um Mia handelte.
Mia fühlte sich seltsam abwesend, gleichzeitig aber hellwach: Wenn es sich wirklich so zugetragen hatte, wie Ethan es gerade beschrieb, dann … dann war ihr Verschwinden wirklich verantwortlich für den Herzinfarkt ihres Vaters.
„Ich will jetzt sofort die Fotos sehen.“ Sie sah Ethan flehend an und streckte die Hand nach dem Umschlag aus. „Ich muss sie sehen. Ethan, bitte!“ Trotz aller Selbstbeherrschung brach ihr die Stimme.
Und genau diese Tatsache, dieser erste Riss in der Fassade, die sie um sich aufgerichtet hatte, gab Ethan Hoffnung, dass sie doch noch etwas für William empfand.
„Sie sind aber wirklich kein schöner Anblick“, warnte er sie ein letztes Mal, bevor er ihr den Umschlag gab.
Besorgt beobachtete er sie, wie sie den Umschlag aufriss und die Fotos herausnahm. Ein kurzer Blick auf das erste Foto genügte, um Mia schneeweiß werden zu lassen. Trotzdem betrachtete sie jedes Foto einzeln … bis sie ihr plötzlich aus den Händen fielen und auf den Teppich herunterflatterten.
„Oh mein Gott …!“ Ethan tat einen Schritt auf Mia zu.
„Geh mir aus dem Weg, wenn du dein Jackett retten willst!“ Mia hielt sich eine Hand vor den Mund.
Dieser Satz war unnötig, denn ein Blick auf ihre leicht grünliche Gesichtsfarbe genügte, um Ethan schnell einen Schritt zur Seite treten zu lassen. Er sah Mia nach, wie sie hinausrannte und im Bad am Ende des Flures verschwand.
Eine Reaktion, die Ethan bestens nachvollziehen konnte. War es ihm doch genauso ergangen, als er die Fotos damals ansah – in der Überzeugung, Mias sterbliche Überreste vor Augen zu haben …
6. KAPITEL
Es dauerte nicht lange, bis Mia ihren Magen vollständig entleert hatte. Im Coffeeshop war heute so viel los gewesen, dass sie kaum etwas zu sich hatte nehmen können, und zu einem Abendessen war es ja bisher noch nicht gekommen. Was unter diesen Umständen nun auch sein Gutes hat, dachte sie mit einem gewissen Galgenhumor …
Niemand konnte die Fotos, die Ethan ihr gezeigt hatte, unbeschadet betrachten …
Oh mein Gott, wie muss
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