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Mich hat keiner gefragt - Mich hat keiner gefragt

Titel: Mich hat keiner gefragt - Mich hat keiner gefragt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ayse
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sich abgesondert, und ich versuchte, sie wieder einzufangen. Da kam plötzlich ein Schäferhund angerannt. Er war sehr aggressiv und bellte mich an. Ich hatte Angst und versuchte wegzulaufen. Aber das brachte ihn nur noch mehr in Rage. Er sprang mich von der Seite an und biss mir in den Oberschenkel. Mit einer tiefen Bisswunde bin ich an jenem Abend nach Hause gekommen. Mutter war geschockt. Vorsichtig säuberte sie die Wunde und machte mir einen Verband. Ich hatte Schmerzen und weinte. Und ich hatte Angst. Ich wusste, Vater würde sehr wütend werden, wenn er die Wunde sah. So beschlossen wir, nichts zu sagen. Weinend bin ich an jenem Abend eingeschlafen.
    Am nächsten Tag hatte ich Probleme beim Aufstehen, mein Bein tat immer noch weh. Anne half mir. Als Vater aus dem Hauswar, ist sie schnell zu einem Onkel gelaufen und bat ihn, mich ins Krankenhaus zu fahren. Ich glaube, sie hatte Angst, dass ich mich mit Tollwut angesteckt hatte. Das hat sie mir natürlich nicht erzählt, aber ich spürte ihre Sorge. Völlig verängstigt bin ich also mit meinem Onkel in die Stadt gefahren. Ich war noch nicht oft in der Stadt gewesen, aber die Schmerzen waren so groß, dass ich mich nicht darüber freuen konnte. Im Krankenhaus wurde ich schnell verarztet. Da man den Verdacht auf Tollwut tatsächlich nicht ausschließen konnte, bekam ich eine Spritze direkt in den Bauch. Das war furchtbar, die Spritze war riesengroß, und es tat sehr weh. Weinend saß ich danach neben meinem Onkel, der mich nach Hause fuhr. Ich fürchtete mich, denn ich musste jetzt jeden Tag eine Spritze bekommen, zehn Tage lang. Und ich musste es meinem Vater sagen. Wie würde er reagieren? Wie sollte ich jeden Tag in die Stadt kommen? Und wer sollte die Spritzen bezahlen?
    Zu Hause kam das erwartete Donnerwetter. Mein Vater schlug wütend auf mich ein, als ob ich nicht genug Schmerzen gehabt hätte. Aber das kümmerte ihn nicht. Nachdem er sich ausgetobt hatte, ging er ins Kaffeehaus. Ich lag schluchzend auf dem Bett, anne machte mir Tee und tröstete mich. Danach bin ich jeden Tag alleine mit dem Bus in die Stadt gefahren. Ich musste umsteigen und war für eine Fahrt anderthalb Stunden unterwegs. Im Krankenhaus bekam ich die Spritze, und dann fuhr ich wieder nach Hause. Woher das Geld für die Behandlung kam, weiß ich nicht.
     
    Nach meinem Unfall ging das Leben weiter – Arbeit, Arbeit, Arbeit. Mein abi , der die Schule inzwischen regulär verlassen hatte, und ich wurden als vollwertige Arbeitskräfte eingesetzt, und zwar jeden Tag. Gebraucht wurden wir natürlich überall, aber vor allem beim Tabakanbau. Der Tabak war ja eine Haupteinnahmequelle meiner Familie und beschäftigte uns daher rund ums Jahr. War er im Frühjahr angepflanzt, mussten die Pflanzen mehr oder weniger täglich versorgt werden. Besonders intensivund mühsam aber war die Ernte. Mühsam deshalb, weil Tabak nachts geerntet werden muss – sobald die Sonne scheint, verlieren die Blätter ihren Saft und sind zum Schneiden zu schlapp. Also sind wir in der Erntezeit immer gegen Mitternacht oder spätestens um ein Uhr morgens aufgestanden und raus auf die Felder – Mutter, Bekir und ich. Mein Vater und meine kleine Schwester kamen nicht mit, die konnten weiterschlafen. Das fand ich ungerecht.
    Ab August also weckte anne uns jede Nacht. Wenn sie »aufstehen, aufstehen« rief, war das vor allem für mich furchtbar, und regelmäßig verkroch ich mich unter der Decke. Obwohl ich am Abend davor immer sehr früh ins Bett ging, war ich überhaupt nicht ausgeschlafen. Manchmal musste mein Bruder mit einem unsanften Fußtritt nachhelfen. Völlig verschlafen haben wir dann ein Glas Tee getrunken und sind losgelaufen. Wir waren immer zwischen einer Stunde und anderthalb unterwegs, weil die Felder so weit draußen lagen. Es war auch schwierig für mich, den beiden Großen zu folgen, denn ich war noch klein und hatte kurze Beine. So kam ich oft mit einer Viertelstunde Verspätung auf dem Feld an.
    Was dann folgte, war Schwerstarbeit. Es war dunkel, und wir hatten Petroleumlampen dabei. Nur so konnten wir die gelben Blätter erkennen. Die Tabakpflanzen, die zur Erntezeit einen Meter hoch standen, wurden von unten her geerntet. Dazu musste man in die Hocke gehen und sich in dieser Stellung vorwärts bewegen. Genau deshalb war es auch so anstrengend. Ich war zu dem Zeitpunkt etwa einen Meter dreißig groß, kippte immer wieder um und saß auf dem Boden. Sitzend aber konnte ich nicht schnell genug arbeiten.

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