Mich hat keiner gefragt - Mich hat keiner gefragt
herein kamen Tante Songül, Onkel Ahmed und Mustafa. Schüchtern lächelte ich und begrüßte sie, indem ich Tantes Hand nahm, sie küsste und an meine Stirn drückte. Das Gleiche tat ich auch mit Onkels Hand. Diese Art von Begrüßung ist bei uns so üblich. So erweisen die Jungen den Älteren Respekt. Mustafa schaute ich nicht an. Ich war zu verlegen. Was mit meinen Geschwistern war, weiß ich nicht mehr. Ich glaube, mein Bruder war nicht dabei. Aber es waren ein paar Tanten und Onkel gekommen. Nach der Begrüßung setzten wir uns und fingen an zu essen. Die Erwachsenen plauderten über dies und das, aber worum es eigentlich ging, das sagte niemand. Dann, irgendwann, stand mein Onkel auf und sagte: »Ja, ich will Ayşe für meinen Sohn«, danach stand Mustafa ebenfalls auf und sagte: »Ja, ich will.« Mein Onkel gab mir den Ring, und das war’s. Aber der schmale Goldreif, der wie ein Ehering aussah, war mir viel zu groß. War das ein Zeichen? Die Tante sah mein fragendes Gesicht und beschwichtigte mich gleich: »Ach, das macht doch nichts. Den lassen wir gleich morgen enger machen, kız , dann passt er dir.« Damit war es amtlich – ich war mit meinem Cousin Mustafa verlobt und würde ihn nach Ablauf der Verlobungszeit von drei Jahren heiraten.
Irgendjemand wollte ein Foto machen. Ich glaube, es war meine Tante. Also stellten Mustafa und ich uns an eine Wand in unserem Zimmer, nahmen uns an der Hand, und sie drückte ab – der Moment, der mein Leben verändern sollte, war für die Ewigkeit festgehalten. Dann schickten uns die Erwachsenen insandere Zimmer. Vermutlich dachten sie, wir sollten uns ein bisschen kennen lernen. Das war mir furchtbar peinlich. Was sollte ich mit ihm reden? Wir hatten uns so lange nicht gesehen und waren uns so fern. Also saßen wir einfach nebeneinander und haben uns an den Händen gehalten. Irgendwann hat er versucht, mich in den Arm zu nehmen. Aber ich wollte das nicht und habe ihn weggestoßen und sagte: »Nein, nicht.«
Da fragte er mich ganz erstaunt: »Wieso, wir sind doch jetzt verlobt?«
Aber das war mir egal. Mir war das zu früh. Irgendwie ist es ihm dann doch gelungen, mich zu küssen. Oh, war das eklig! Danach bin ich sofort rausgelaufen und habe mir den Mund lange mit Wasser ausgespült.
Zusammen sind wir dann in die gute Stube zurückgegangen. Die anderen waren alle aufgekratzt und fröhlich. Niemand fand es merkwürdig, dass hier gerade zwei Kinder miteinander verlobt worden waren. Das war bei uns eben so. Als die Gesellschaft sich schließlich auflöste, war es spät am Abend. Ich half meiner Mutter noch beim Aufräumen und Abwaschen, danach fiel ich ins Bett. Obwohl ich todmüde war, konnte ich nicht schlafen. Viele Dinge gingen mir durch den Kopf. Wie würde es sein, dort in Almanya ? Und wie würde es sein, verheiratet zu sein? Ich hatte Angst, wusste aber nicht wovor.
An die nächsten Tage erinnere ich mich nur noch sehr undeutlich. Der Besuch beim Juwelier, der den Ring tatsächlich enger machen konnte, und die Ohrringe, die ich noch aussuchen durfte. Oder meine Freundinnen, die vorbeikamen, um mir zu gratulieren. In ihren Augen hatte ich das große Los gezogen – ich würde nach Almanya heiraten und dort leben. Und das konnte nur paradiesisch sein, daran hatte niemand den geringsten Zweifel. Nach nur zwei Tagen sind Onkel und Tante mit meinem Verlobten wieder abgereist. Mustafa und ich hatten uns in der Zeit noch einmal kurz gesehen, öfter nicht.
Dass meine Kindheit mit der Verlobung zu Ende gegangen war, habe ich erst Monate später begriffen. Zunächst hatte ichgedacht, das Leben würde so weitergehen wie davor. Aber das war ein Irrtum! Der Sommer ging zu Ende, und wir Kinder mussten zurück in die Schule. Ich ging zwar immer noch nicht gerne hin, aber um die Schulpflicht kam auch ich nicht herum. Oder doch? Wie genau er das angestellt hatte, weiß ich bis heute nicht. Jedenfalls sagte mein Vater eines Morgens zu mir, das muss drei Wochen nach Schulbeginn gewesen sein, dass damit jetzt Schluss sei. Ich sei verlobt und müsse nicht mehr zum Unterricht. Lesen und Schreiben bräuchte ich sowieso nicht. Ich würde schließlich bald heiraten, und da müsse man vor allem eins können: arbeiten und eine Familie versorgen. Wie Recht er doch haben sollte. So verließ ich mit elf Jahren die Schule. Obwohl ich diese fünf Jahre besucht hatte, war ich nur bis in die dritte Klasse gekommen und konnte weder schreiben noch lesen. Dass ich nicht mehr zur Schule musste,
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