Mich hat keiner gefragt - Mich hat keiner gefragt
mehr möglich. Aber das war mir inzwischen egal. Ich besorgte nur noch das Nötigste und stellte es in den Kühlschrank. Ich hatte keine Energie mehr, etwas zu kochen. Die Kinder aßen nun meistens etwas Kaltes. Sie würden schon nicht sterben, wenn sie mal kein warmes Essen bekamen. Natürlich fing Mustafa an, mir Vorwürfe zu machen, und schrie, was für eine nachlässige Mutter ich sei, ich könne nicht mal die Kinder richtig versorgen.
Wegen der Kinder hatten wir uns in letzter Zeit immer häufiger gestritten. Mustafa hatte sich ja bisher fast ganz aus der Kindererziehung herausgehalten, aber je größer sie wurden, umso mehr mischte er sich ein. Vor allem mit Can hatte er Probleme.
Der war inzwischen siebzehn Jahre alt und hatte seinen eigenen Kopf. Er wollte die gleichen Dinge machen wie die deutschen Jungen in seinem Alter. Mofa fahren, ausgehen und den Mädchen hinterherlaufen. Aber das waren für Mustafa rote Tücher, solche schändlichen Sachen machten nur die Deutschen, aber doch nicht sein türkischer Sohn. Je mehr Freiheiten Can sich nahm, umso strenger wurde er. Eigentlich hatte das Vater-Sohn-Drama schon viel früher begonnen. Als Mustafa noch den Laden hatte, bestand er immer häufiger darauf, dass die Söhne ihm halfen. Vor allem Can plante er gerne ein, weil er der Älteste war. Aber der hatte oft keine Lust. Er wollte nicht unnütz im Geschäft herumsitzen und sich langweilen. Stattdessen traf er sich lieber mit seinen Freunden auf dem Dorfplatz.
Regelmäßig gab es Ärger. Ich versuchte, zwischen den beiden zu vermitteln. Ich machte Mustafa klar, dass sein Sohn älter wurde und mehr Freiheiten brauchte. Und Can sagte ich, dass er auf seinen Vater hören müsse und ihm nicht widersprechen dürfe. Aber wirklich erfolgreich war ich nicht. Immer häufiger gerieten die beiden aneinander. Can hatte sich verändert. Er achtete plötzlich sehr auf sein Äußeres, benutzte Deo und Rasierwasser und wirkte überhaupt sehr erwachsen. Natürlich bemerkte ich diese Veränderungen, aber gesagt habe ich nichts. Ich wartete ab, irgendwann würde er mit mir darüber sprechen. Da war ich mir sicher.
Dann, eines Abends, Mustafa und sein jüngerer Bruder Erkin saßen vor dem Fernseher, da passierte es. Can wollte weg. Er sagte nicht wohin, sondern zog sich an und war schon auf dem Weg nach draußen. Da baute sich Mustafa an der Wohnungstür vor ihm auf und schrie: »Wo willst du hin?«
»Ich geh noch weg«, sagte Can.
Mustafa: »Du gehst nirgendwohin!«,
und Can erwiderte: »Tu ich doch.«
Aber diesen Satz hatte er noch kaum ausgesprochen, als Mustafa ihm schon einen Schlag versetzte. Mitten ins Gesicht. Dann kam mein Schwager dazu. Er hatte einen Gummiknüppelund ohne mit der Wimper zu zucken, schlug er auf Can ein. Ich erstarrte, sie würden ihn totschlagen. Ich ging dazwischen, aber es wurde nur noch schlimmer. Mustafa und sein Bruder schlugen abwechselnd auf mich und dann wieder auf meinen Sohn ein. Can war in Deckung gegangen und bei der nächstbesten Gelegenheit riss er die Wohnungstür auf und rannte die Treppe hinunter. Ich nutzte die Chance und riss den Mantel vom Haken, um ihm zu folgen.
Es war mitten im Winter, und der Junge hatte nur Turnschuhe und eine dünne Jacke an. Ich rief hinter ihm her: »Can, Can, bleib stehen.« Aber er hörte nicht, sondern lief einfach weiter. Ich keuchte. Die Luft war eisig. Immer wieder rief ich: »Junge, Junge, warte doch.« So liefen wir, er voraus und ich in immer größerem Abstand hinterher. Als wir das Ende des Dorfes erreicht hatten, hatte ich ihn aus den Augen verloren. Aber er konnte nicht verschwunden sein. Sicher war er in die Moschee gelaufen. Ich fand ihn im Gebetsraum. Wir waren allein. Can saß in einer Ecke. Er war völlig aufgelöst. Seine Haare hingen ihm klatschnass ins Gesicht, und die Tränen liefen ihm über die Wangen. Ich nahm ihn in den Arm und musste auch weinen.
»Er macht mir großen Druck, dein Vater, weißt du.« »Ja, ich weiß, aber mir macht er doch auch Druck.« »Komm, lass uns wieder nach Hause gehen. Wir werden noch
mal mit ihm reden, ja?«
»Nein, Mama, ich gehe nicht mehr nach Hause. Ich kann nicht. Außerdem liebe ich ein Mädchen.«
Jetzt war es draußen. Ich hatte es ja schon die ganze Zeit gespürt.
»Aber Can, ich liebe dich doch auch, du bist mein Sohn.«
»Ich weiß«, sagte er, »aber Mama, ich liebe sie wirklich sehr.« Dann erzählte er mir von Tanja. Wie er sie kennen gelernt hatte, was sie für ein tolles
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