Michael, der Finne
fortsetzten, denn der Herbst war nun weit vorgeschritten. Wir gelangten nach Burgund und Frankreich, und die ersten Sprachschwierigkeiten stellten sich ein, doch traf ich überall in Stadt und Dorf gottesfürchtige Priester und Mönche, die uns gerne berieten, da ich Latein sprach. Die Not erwies sich als gute Lehrmeisterin. Mit meiner Begabung für fremde Sprachen merkte ich bald, daß das Französische eine Tochtersprache des Lateinischen ist, wenngleich ihre Verkleidung mich anfangs etwas in Verlegenheit brachte. Wir wanderten durch helle Buchenwälder, und an schönen Tagen schien die Sonne durch einen Nebel, der die Landschaft in einen traumhaften Schleier hüllte. Am Allerseelentag standen wir auf dem Hügel von Montmartre und sahen auf die Türme und Dächer von Paris nieder, das, umschlossen von den grünen Armen der Seine, zu unseren Füßen lag. Wir fielen auf die Knie und dankten Gott, daß er uns wohlbehalten ans Ende unserer langen, langen Reise geführt hatte. Dann eilten wir beschwingten Schrittes den Hang hinab, und ich wußte nun, wie Moses zumute war, als er vom Gipfel des Berges ins Gelobte Land blickte.
Aber wir hatten Gott zu früh gedankt, und unser Schicksal sollte dem des Moses, der Kanaan nie betreten hatte, noch ähnlicher werden, denn ein Haufen Bettler und Diebe stürzte aus einem Versteck unter einigen Kastanienbäumen an einer Straßenbiegung hervor und überfiel uns mit Knüppeln, Steinen und Messern. Sie hätten uns zweifellos kaltblütig erschlagen und ausgezogen und unsere nackten Leichen unter den Büschen, wo niemand nachgeforscht hätte, versteckt, hätte Andy nicht solche Riesenkräfte besessen, daß er sie mit einigen Stockhieben verjagte. Sie machten sich kreischend und heulend aus dem Staub, überzeugt, daß sie an den leibhaftigen Satan geraten waren. Ich aber lag blutüberströmt auf der Straße und konnte mich nicht erheben, da mich ein Stein am Kopf getroffen hatte. So rettete Andy mir zum zweitenmal das Leben.
Ich war so benommen, daß ich keinen besonderen Schmerz fühlte, und mir war, als hörte ich nur Glocken läuten und die Engel singen. Das zeigt am deutlichsten, wie nahe ich der Pforte des Paradieses gekommen war. Gestützt auf Andy humpelte ich weiter; ein Stück Weges trug er mich auf seinen starken Armen.
Am Stadttor wollte uns die Wache nicht einlassen, weil ich verletzt und mein Kopf blutig war. Die Schwachköpfe hielten mich für einen Raufbold. Ich erzählte ihnen meine Geschichte immer wieder und versuchte vergeblich, ihr Mitleid zu erwecken; sie hätten uns ohne Zweifel eingesperrt, wäre uns nicht ein alter Barfüßermönch zu Hilfe gekommen. Der nahm Einsicht in meine Papiere und verbürgte sich bei der Wache für meinen rechten Glauben und meinen guten Ruf. Er führte uns überaus freundlich auf die Insel jenseits des Flusses hinüber, wo das Universitätsviertel lag, und zeigte uns eine bescheidene Schenke am Ufer, wo wir die Nacht verbringen könnten.
Die schlampige Wirtin schien an den Anblick zerdroschener Schädel gewöhnt. Sie holte unaufgefordert warmes Wasser und Tücher und kratzte auf meinen Wunsch aus abgelegenen Winkeln Spinnweben und Meltau zusammen, um sie auf die Wunde zu legen. Nach einem Glas Wein fühlte ich mich besser und nicht mehr schwindlig, obwohl mir der Gesang der Engel noch viele Tage im Ohr blieb.
Die gute Frau, die viele Studenten verköstigt und beherbergt hatte und wußte, wie ich es anstellen sollte, in die Universität aufgenommen zu werden, ging mir in vielem hilfreich an die Hand. Zuerst müsse ich einen Präzeptor finden, so daß ich nach angemessener Frist durch eine Disputation in seiner Schule den ersten wissenschaftlichen Grad erwerben könne. Die Vorrechte der Universität genoß nur, wer von einem Präzeptor betreut wurde. Meine Nation war die Alemannische oder Germanische, der alle jenseits der französischen Grenze Geborenen angehörten. Ich mußte daher einen englischen oder deutschen Präzeptor wählen, wenn ich keinen Schweden oder Dänen fand. Solche Männer, die den Grad eines Magisters erworben hatten, mußten nach den Statuten an der Artistenfakultät zwei Jahre lang unentgeltlich lehren und daneben ihren eigenen Studien an einer der drei höheren Fakultäten obliegen. Von solch ausländischen Heiden aber, wie Schweden oder Dänen, hatte die Wirtin noch nie gehört.
»Je weiter die Studenten von ihrer Heimat entfernt sind, desto mehr trinken sie und desto schlimmer benehmen sie sich«, bemerkte
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