Michael, der Finne
Macht sei. Einige meiner Gefährten waren ebenso jung, arm und hingerissen wie ich. An den Abenden unterhielten wir uns, weiteten unseren Geist, schärften unseren Verstand und fühlten, wie wir im geistigen Wachstum die engen Grenzen unserer fernen Heimatländer überwanden und in die große Brüderschaft einer gemeinsamen Sprache und einer gemeinsamen weltweiten Kultur eintraten.
Mag sein, daß ich in jenem Winter Kälte und Hunger litt, doch weiß ich nichts mehr davon. Ich erinnere mich nur an den Zauber des Studiums. Mag sein, daß ich zusammen mit der wahren Wissenschaft auch Steine zu kauen begann, doch hatte ich das feste Gebiß der Jugend und wußte nicht, was zweifeln heißt.
Wir glichen einer Horde dürftiger Spatzen, wenn wir uns in der Dämmerung, mit höchstens einem Schluck Wein und einem Stück Brot im Magen, zitternd vor Kälte vor unserer Kirche versammelten, um unseren Meister zu erwarten und uns mit ihm auf die Suche nach einem leeren Raum zu machen. Die älteren und berühmteren Präzeptoren an der Artistenfakultät zählten ihre Hörer nach Hunderten, unser hingegen waren niemals mehr als zwanzig. Doch kam uns dies um so mehr zustatten, als unser lieber holländischer Magister auf diese Art unser Freund wurde.
Wir waren aus vielen Ländern eines zerrissenen und aufgewühlten Europas gekommen. Es hatte uns von fern und nah wie die Tauben an der größten Schule aller Zeiten zusammengetragen. Die erhabene Theologie, die Königin der Wissenschaften, regierte hier – das meisterlich ausgearbeitete Ergebnis jahrhundertelanger Entwicklung. Sie schloß alle Fragen, menschliche wie göttliche, ein und hatte im Rahmen kirchlicher Billigung erschöpfende, auf frühere Fälle und auf Tradition gegründete Antworten auf jede vernünftige Frage bereit. Allein nur ein vollendeter Magister, der die weltliche Philosophie schon vollkommen beherrschte, wurde für reif zum Studium der Theologie befunden; so hatten wir fünf bis sechs Jahre vor uns. Ich gelangte nie so weit, wie ich noch berichten werde, doch erkannte ich, daß Menschengeist nie zuvor ein so vielfältiges und erhabenes Gebäude aufgeführt hatte – und vielleicht nie wieder aufführen würde – wie die Theologie meiner Zeit, die ihren Höhepunkt unmittelbar vor dem großen Abfall erreichte.
Die Jugend ist begierig und verschlingt ohne Unterschied alles Wissen, das ihr vorgesetzt wird, und ich machte mir Magister Monks Erlaubnis, seine Bücher zu lesen, in gefährlichem Maße zunutze. Er lieh mir zwei Werke seines Landsmannes Erasmus von Rotterdam, so daß ich neben meinen eigentlichen Studien etwas Anregendes zu lesen hatte. Ein Buch hieß Morie Encomium oder »Das Lob der Narrheit«, das zweite Colloquia oder »Gespräche« ; das zweite nahm sich wie ein harmloses lateinisches Lesebuch aus. Beide Werke waren in vollendetem Latein geschrieben, und ich verschlang sie an wenigen Abenden. Von dem Aufruhr, die sie in meinem Inneren wachriefen, drohte mir der Kopf zu zerspringen, und ich saß bis in die späte Nacht bei meinem Rüböllämpchen.
Es waren die verwirrendsten Bücher, die ich je gelesen hatte. Die beißende Ironie des Verfassers wirkte auf mich wie Gift und erweckte Zweifel in meinem Herzen. Denn der gelehrte Humanist kehrte mit seinem Lob der Narrheit das Oberste zuunterst und bewies überzeugend, daß Menschenweisheit und Menschenwissen bloße Hirngespinste – und noch dazu kalte und schreckenerregende Hirngespinste – seien. Nur ein schickliches Maß an Narrheit verleihe dem Tun und Ringen des Menschen Wesen und Würze. Er behauptete, nur ein Narr könne in allen seinen Wünschen und Taten glücklich sein, und brachte dafür mit erstaunlicher Eindringlichkeit Beweise vor. Er lehrte mich in meiner eigenen Umgebung und unter den feierlichsten Umständen die Fratze der Frau Narrheit erkennen. Aber die Colloquia, die erst jüngst die Druckerpresse verlassen hatten, waren noch schlimmer. In seinen fingierten Gesprächen zögerte er nicht, selbst die Wirksamkeit der Sakramente für jene, die nicht selbst in sich gingen und ihr Leben besserten, anzuzweifeln. Er ging so weit, zu behaupten, daß wenige Zeilen des Heiden Cicero die Seele besser nährten und erfrischten als alle Lehren der Schulmeister. Denn, so führte er aus, klares Denken läßt sich auch klar ausdrücken.
Nach der Lektüre dieser Bücher fühlte ich mich klüger als je zuvor, hatten sie doch Gedanken in mir geweckt, die ich selber nicht zu denken gewagt hatte. Mich
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