Mick Jagger: Rebell und Rockstar
kommerziell gesehen waren sie sogar die größte Band der Welt. Wieder einmal suchte Mick nach einem Kompromiss zwischen dem Sound der Stones und dem, was gerade neu und angesagt war. Und als Mick Jagger dann zu Rick Rubin ging, machten sie nicht nur ein Album, sondern gleich zwei: ein zeitgemäßes Rockalbum, das unter dem Titel Wandering Spirit veröffentlicht wurde, und ein ganz spezielles, auf dem es nichts wirklich Neues zu hören gab, aber auch nichts Abgestandenes.
Während der Wandering Spirit -Sessions in den Ocean Way Studios in LA nahm Rubin Jagger eines Abends mit in eines seiner Lieblingslokale: das King King. Aus dem ehemaligen chinesischen Restaurant war nach Umbauarbeiten ein angesagter, schicker Club mit einer kleinen Bühne und schwarz lackierten Wänden geworden, in dem sich viele Stars offensichtlich wohlfühlten. An jedem Wochentag stand eine bestimmte Musikrichtung auf dem Programm. So gab es beispielsweise den Ska-, den Swing- oder den Reggae-Tag, und es gab – immer montags – den Blues-Tag. Jagger und Rubin waren an einem Montag dort, und auf der Bühne standen die Blue Shadows, die sich später Red Devils nannten. Die Red Devils waren dürre, mürrische, tätowierte Jungs; einige von ihnen hatten zuvor bei den LA-Roots-Rockern The Blasters gespielt. Ihr Frontman war der charismatische Sänger und Bluesharp-Spieler Lester Butler. »Lester hatte diese Rockstar-Ausstrahlung«, sagt der ehemalige Red-Devils-Gitarrist Paul Size, der in Texas aufgewachsen und damals noch ein Teenager war. »Er war von dieser speziellen Aura umgeben. So als säße ihm der Engel auf der einen und der Teufel auf der anderen Schulter. Wie bei Jerry Lee Lewis oder Anthony Kiedis. Er hatte eine unglaubliche Bühnenpräsenz, einerseits war er absolut perfektionistisch, andererseits völlig chaotisch. Seine Stimme war einzigartig und er schlug die Leute damit vollkommen in seinen Bann. Sie hatte etwas Neues und Unverbrauchtes.« In den vergangenen zehn Jahren hatten Glam-Metal-Bands wie Ratt, Poison oder Faster Pussycat Hollywood fest im Griff. Der unverfälschte Blues wirkte wie ein frischer Wind, der Szenegänger jeglicher Couleur ins King King zog. Einer der Stammgäste war Bruce Willis oder sein mundharmonikaspielendes Alter Ego Bruno. Er jammte zusammen mit der Band auf der Bühne des King King – und die Shadows waren laut. Um die Lärmschutzverordnung scherte man sich im King King nicht besonders. Wer sein Wochenende noch um einen Tag verlängern wollte, war im King King in den frühen 90ern genau an der richtigen Adresse. Rubin und seine Kollegen liebten die ungezwungenen Montagabende und dachten, die gute Partystimmung könne eventuell dazu beitragen, dass Mick etwas lockerer würde.
Die Rechnung ging auf und dem einen Besuch folgten weitere. Eines Abends verblüffte Mick die Stammgäste des King King damit, dass er auf die Bühne ging, um mit Butler und der Band zu jammen. Die Jungs waren vorgewarnt worden von Rick Rubin, der sie gerade dazu gebracht hatte, ihren Bandnamen zu ändern und versuchte, sie näher an sich zu binden, weil er mit dem Gedanken spielte, eine Platte mit ihnen aufzunehmen. »Sie riefen uns an und verrieten uns, dass er kommen würde«, sagt Paul Size. Den Puristen Size schüchterte die Aussicht, zusammen mit Mick Jagger auf einer Bühne zu stehen, nicht ein. »Wer nicht schwarz war, den hörte ich mir nicht an«, sagt er heute, fast zwanzig Jahre später. »Ich war ein Blues-Faschist. Ich kannte diese Zunge und die Lippen, aber ich habe mich nie für die Stones begeistern können. In meinen Ohren war das einfach klassische Rockmusik. Ein Teil von mir dachte: ›Oh, genau wie bei Bruce Willis, jetzt steht ein anderer großer Star auf unserer Bühne.‹ So ist das in LA: Sobald es irgendwo was Neues gibt, reißen sich all die anderen Typen darum, mit deren Karriere es bergab geht. Daher dachte ich zunächst: ›Na prima, der will also auch ein Stück von unserem Kuchen abhaben.‹ Aber ich muss zugeben, dass da irgendwas passiert ist, als er die Bühne betrat.« Size sah wie Mick sich bewegte und tanzte. Er beobachtete die Reaktion des Publikums. Hörte, wie echt seine Stimme klang. »Ich dachte: ›Wow, dieser Typ ist irgendwie anders.‹ Ich glaube der Auftritt gab ihm was, das er lange nicht mehr erlebt hatte.«
Aus diesem spontanen Blues-Jam entwickelte sich tatsächlich etwas. Vielleicht bedeutete dieser gemeinsame Auftritt Mick gar nicht so viel, doch auf jeden Fall inspirierte
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