Mick Jagger: Rebell und Rockstar
Hochzeit, folgten auch auf die Geburt seitenweise Berichte in der Boulevardpresse. Die Stones waren populärer denn je. Die Hochzeit, die Kinder, der noch ungewohnte Umgang mit der Presse, die man geschickt bei der Stange halten musste, bevor man ihr neue Köder hinwarf – all das veränderte Mick Jagger, wie es überhaupt das Wesen des Rock’n’Roll veränderte.
Nun, da immer mehr Menschen seinen Weg, seine modischen Extravaganzen und seine kreativen Entscheidungen verfolgten, war es eigentlich für Mick und die Stones an der Zeit, ein weiteres Meisterwerk abzuliefern. Allerdings war die Band Mitte 1971 so uneins, dass die Voraussetzungen dafür, ein neues brillantes Album zu produzieren, alles andere als günstig waren. »Ich glaube [Bianca] hatte einen wesentlich negativeren Einfluss auf Mick, als es irgendwer für möglich hält«, sagte Keith einmal. »Mick, Anita und ich hingen verdammt viel zusammen rum, bevor er Bianca kennenlernte. Dadurch, dass er Bianca heiratete, standen uns plötzlich verschiedene Möglichkeiten für unsere Zusammenarbeit als Songwriter nicht mehr zur Verfügung. Denn es ist ja so, dass die Inspiration nicht permanent und regelmäßig kommt, sondern eher in unregelmäßigen Wellen. Von daher war es nun tatsächlich viel schwieriger, zusammen zu schreiben, und es war auch viel schwieriger, einfach zusammen abzuhängen.«
Bianca – oder auch irgendjemand anderen – zu heiraten, entsprach vollkommen Micks Unberechenbarkeit und seinem Entschluss, sich von den Regeln des Rock’n’Roll nicht einengen zu lassen wie sein dogmatischer Partner. Als man von ihm einmal wissen wollte, ob er das nicht seltsam fände, einerseits der vulgäre Rocker und andererseits (zumindest eine Zeit lang) der glücklich verheiratete Ehemann zu sein, erwiderte Mick gut gelaunt: »Gibt es nicht im Leben von allen Menschen ein paar Widersprüche?«
BERÜCHTIGT
KAPITEL 11
D ie 72er-Tour war die erste große virale Marketingkampagne.« So beurteilt Peter Rudge die Rückkehr der Band nach Nordamerika und eine Tour, in deren Verlauf sich die Stones ein noch verheerenderes Image erarbeiteten, als sie es sich in ihrem Skandaljahr 1967 überhaupt hätten vorstellen können. Dass der Mythos von 72 so lange nachhallt, liegt hauptsächlich an einer umfangreichen Reportage für ein Magazin und an einem Filmprojekt, die beide die Tour dokumentieren sollten, aber beide nie veröffentlicht wurden. Die Rede ist von Robert Franks Filmdokumentation Cocksucker Blues (benannt nach Micks berüchtigter, aber nie veröffentlichter letzter Decca-Single) und einem Bericht von Truman Capote. In Capotes Fall rechnete man quasi mit einer Neuauflage seines im New Yorker veröffentlichten Reportageklassikers The Muses Are Heard . Franks Film verstaubt bis heute in irgendeinem Archiv. Offiziell vorgeführt wurde er zwar nie, aber ich bin mir fast sicher, dass es keinen Stones-Fan gibt, der den als Video-Bootleg kursierenden Film nicht mindestens einmal gesehen hat. Die vom Rolling Stone -Chefredakteur Jann Wenner bei Capote in Auftrag gegebene Reportage ist nie fertiggestellt oder veröffentlicht worden. Auch wenn es sie offiziell nicht gibt, haben beide Arbeiten ganz beträchtlich zu dem nachhaltig üblen Ruf der Rolling Stones beigetragen. Und dass beide auf Eis gelegt wurden, hat möglicherweise auch damit zu tun, dass Mick ein starkes Interesse daran hatte. Wie macht man daraus einen Mythos? Ganz einfach: »Du lässt jeden wissen, dass es etwas gibt oder geben sollte, das niemand sehen oder lesen kann«, sagt Rudge. »Mick hatte das drauf.«
© Michael Ochs Archives
Stevie Wonder, der 1972 in den USA im Vorprogramm der Stones spielte, steht gemeinsam mit Mick Jagger auf der Bühne.
Bei ihrer Ankunft in Amerika, acht Jahre nachdem sie zum ersten Mal auf dem JFK Airport gelandet waren, zogen die Stones die öffentliche Aufmerksamkeit in einem Maße auf sich, wie man es seit den frühen Tagen der British-Invasion-Hysterie nicht mehr erlebt hatte. »Ich kann mich an die Beatles nicht einmal mehr erinnern«, sagte Mick 1972 in einem Life -Interview. »Das scheint alles so lange her zu sein. Das war eine völlig andere Zeit.« Nach der dreijährigen Tourpause brannten die Leute darauf, die Stones live zu sehen. Mit Sticky Fingers waren sie zwar nicht in den USA auf Tour gewesen, dennoch war das Album hier extrem erfolgreich. Im Vorprogramm sollte Stevie Wonder spielen, der mit seiner Hitsingle »Superstition« damals die Charts
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