Mick Jagger: Rebell und Rockstar
»Cocksucker Blues« nach dem Refrain, in dem es hieß: »Where can I get my cock sucked? Where can I get my ass fucked?« Decca verzichtete und ließ die Band ziehen. Die Stones schlossen einen Vertrag mit Atlantic Records ab und gründeten mit Rolling Stones Records ihr eigenes Label, mit dessen Führung sie Marshall Chess betrauten. »Sie hatten ein echtes Problem«, so Chess. »Sie waren pleite, alles war beschissen. Sie konnten ihren Manager nicht mehr leiden und ihre Plattenfirma auch nicht mehr. Es gab viele neue Acts, die sich die Haie in der Branche sofort einverleibt haben. [Anfang der 60er] hätte niemand gedacht, dass sich das alles so rasant entwickeln würde.« Über seine gesellschaftlichen Beziehungen in London lernte Mick einen Privatbankier kennen, den bereits erwähnten Rupert Prinz zu Löwenstein, den er beauftragte, Ordnung in die Finanzen der Band zu bringen. »Er hat für die Privatbank Leopold Joseph and Sons [Ltd] gearbeitet«, so Chess. »Von der Musikbranche war er völlig unbeleckt. Noch nie zuvor hatte er mit Plattenverträgen zu tun gehabt.« Wie jedes neue Unternehmen hatte auch Rolling Stones Records äußerst ambitionierte Pläne, aber schon bald stellte sich heraus, dass es erst einmal nur ums reine Überleben ging. »Wir wollten auch andere Musiker bei dem Label unter Vertrag nehmen. Wir hatten schon Verhandlungen mit Hendrix aufgenommen – und dann verstarb er plötzlich. Er hätte unser erster Vertragskünstler werden können. Dann riefen sie mich eines Tages zu einem Meeting und sagten: ›Unser Budget ist erschöpft. Und gerade bekamen wir auch noch diesen Steuerbescheid.‹ Ich musste eine Lösung finden, also entschied ich zunächst einmal, dass wir nur die Stones machen und sonst niemanden. Ich fand das klasse. Sex, Drugs and Rock’n’Roll. Es war großartig.«
© Popperfoto/Getty Images
Am 12. Mai 1971 heirateten Mick und Bianca in der Kapelle St. Anne in Saint-Tropez. Hinter dem Brautpaar stehen Anita Pallenberg und Keith, der ein wenig befremdet wirkt.
Auch Ertegün unterstützte die Band und war fest entschlossen, den Stones dabei zu helfen, den Absprung ins neue Jahrzehnt zu schaffen. Dass Bianca in Micks Leben trat, schien irgendwie Teil des entsprechenden Masterplans zu sein. Neben seinem untrüglichen Gespür für gute Musik, dem Musiker wie Ray Charles, Aretha Franklin, Solomon Burke, Wilson Pickett, Erick Clapton und Led Zeppelin zu verdanken hatten, dass Ertegün sie unter seine Fittiche nahm und förderte, besaß er zweifelsohne auch ein Talent als Ehestifter. Ahmet Ertegün war wohl bewusst, dass Bianca Mick inspirieren würde. Sein Vater war als türkischer Botschafter viel in Europa und in den USA herumgekommen. Von ihm hatte Ertegün gelernt, wie man mit Menschen umgehen muss, wenn man seine Ziele erreichen möchte. Er spürte instinktiv, dass Mick – der noch immer unter der Trennung von Marianne Faithfull und seiner ebenso kurzen wie turbulenten Affäre mit Marsha Hunt litt – und Bianca ein gutes Paar abgeben würden, nicht zuletzt, weil sie praktisch seine Doppelgängerin war. »Als Mick mich zum ersten Mal sah, glaubte er, sich selbst zu sehen«, erinnerte sich Bianca Jagger 1974, drei Jahre nach ihrer Hochzeit. »Ich weiß, es gibt Leute, die meinen, Mick hätte es witzig gefunden, seinen Zwilling zu heiraten. In Wahrheit wollte er das Äußerste an sexueller Erfüllung erleben, indem er mit sich selbst schlief.« Wie zuvor schon Marianne Faithfull hatte sich auch Bianca nicht auf den ersten Blick in Mick verliebt. Und so spielte sie zunächst die Unnahbare, als sie ihm im März auf der After-Show-Party des ausverkauften Stones-Konzerts im Pariser L’Olympia vorgestellt wurde. Wieder einmal fand Mick dieses Verhalten ebenso provokant wie erregend. Die damals gerade zweiundzwanzigjährige Bianca hatte den französischen Musikproduzenten Eddie Barclay auf die Party begleitet, der mit so berühmten Chansonniers wie Johnny Hallyday, Juliette Gréco und Jaques Brel zusammengearbeitet hatte. Der schillernde Plattenmogul war mehr als doppelt so alt wie Bianca. Sie fand Mick zwar attraktiv, doch schreckte sie – wie zuvor schon Marsha Hunt – sein Ruf zunächst ab.
Mehrere unzweideutige Aufforderungen, die Party mit ihm zu verlassen, lehnte sie ab. Fürs Erste gab er auf, doch im weiteren Verlauf der Tournee umgarnte er sie am Telefon und bot ihr an, sie zum nächsten Gig einfliegen zu lassen. Irgendwann gab Bianca nach und flog nach Italien, wo die
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