Mickey Haller 04 - Der fünfte Zeuge
sich jemand getäuscht haben, oder jemand log.«
»Was haben Sie daraufhin gemacht?«
»Ich fragte sie, ob sie bereit wäre, mit uns auf die Polizeiwache zu kommen, damit wir sie vernehmen und ihr verschiedene Fotos zeigen könnten. Damit erklärte sie sich einverstanden, und wir nahmen sie mit nach Van Nuys.«
»Haben Sie sie vorher auf ihr verfassungsmäßiges Recht aufmerksam gemacht, dass sie ohne Beisein eines Anwalts nicht mit Ihnen sprechen muss?«
»Zu diesem Zeitpunkt noch nicht, weil sie noch keine Verdächtige war. Sie galt lediglich als Person von Interesse, deren Name im Zuge der Ermittlungen aufgetaucht war. Da diese Schwelle noch nicht überschritten war, hielt ich es nicht für nötig, ihr bereits die Miranda-Warnung zu erteilen. So weit waren wir noch nicht annähernd. Es bestand eine Diskrepanz zwischen dem, was sie uns erzählte, und dem, was eine Zeugin behauptet hatte. Bevor wir sie als Verdächtige einstufen konnten, mussten wir dem noch weiter nachgehen.«
Da hatten wir es schon wieder. Freeman versuchte, Löcher zu stopfen, bevor ich sie aufreißen konnte. Es war frustrierend, aber ich konnte nichts dagegen tun. Ich schrieb mir eifrig Fragen auf, die ich Kurlen später stellen wollte, Fragen, mit denen Freeman nicht rechnete.
Geschickt lotste Freeman den Ermittler in die Polizeiwache von Van Nuys und das Vernehmungszimmer zurück, in dem er mit meiner Mandantin gesessen hatte. Sie nutzte die Gelegenheit dazu, die Videoaufnahme der Vernehmung zu präsentieren. Sie wurde den Geschworenen auf den beiden Flachbildschirmen vorgespielt. Aronson hatte triftige Gründe angeführt, weshalb die Einvernahme beim Prozess nicht gezeigt werden sollte, allerdings ohne Erfolg. Richter Perry hatte das Abspielen des Videos zugelassen. Im Fall einer Verurteilung konnten wir dagegen zwar Berufung einlegen, aber ob wir damit Erfolg hätten, war äußerst fraglich. Ich musste die Wende jetzt herbeiführen. Ich musste eine Möglichkeit finden, den Geschworenen vor Augen zu führen, dass es sich hier um ein unfaires Verfahren handelte und meine unschuldige Mandantin in eine Falle gelockt worden war.
Das Video war von einem erhöhten Standort aufgenommen, und insofern konnte die Verteidigung gleich zu Beginn einen, wenn auch unbedeutenden, Punkt erzielen, weil Howard Kurlen ein großer Mann war und Lisa Trammel klein. So, wie der Detective Trammel am Tisch gegenübersaß, entstand der Eindruck, als bedränge er sie, als treibe er sie in die Ecke und bedrohe sie sogar. Das war gut. Das war Teil eines Themas, das ich in mein Kreuzverhör einzubauen plante.
Die Tonspur war rauscharm und der Klang deutlich. Gegen meinen Einspruch erhielten sowohl die Geschworenen als auch die anderen Prozessbeteiligten Transkripte des Verhörs zum Mitlesen. Den Einspruch hatte ich eingelegt, weil ich nicht wollte, dass die Geschworenen läsen. Ich wollte, dass sie schauten. Ich wollte, dass sie sähen, wie der große Mann die kleine Frau in die Enge trieb. Damit waren Sympathien zu gewinnen, nicht mit Wörtern auf einem Blatt Papier.
Kurlen begann die Vernehmung in beiläufigem Ton, nannte die Namen der im Raum Anwesenden und fragte Trammel, ob sie freiwillig hier sei. Das bejahte meine Mandantin, aber die Drastik und der Aufnahmewinkel straften ihre Antwort Lügen. Sie sah aus, als würde sie in einem Gefängnis festgehalten.
»Fangen wir doch am besten damit an, dass Sie uns erzählen, was Sie heute alles gemacht haben«, fuhr Kurlen fort.
»Von wann an?«, fragte Trammel.
»Am besten von dem Moment an, als Sie aufgewacht sind.«
Trammel schilderte ihren morgendlichen Routineablauf: wie sie aufgestanden war, ihrem Sohn Frühstück gemacht und ihn anschließend in die Schule gefahren hatte. Der Junge besuchte eine Privatschule, und je nach Verkehr dauerte die Fahrt dorthin zwischen zwanzig und vierzig Minuten. Sie sagte, sie habe auf dem Heimweg kurz haltgemacht, um sich einen Kaffee zu kaufen, und sei dann nach Hause gefahren.
»Bei Ihnen zu Hause haben Sie uns noch erzählt, Sie hätten nirgendwo angehalten. Jetzt haben Sie sich auf einmal einen Kaffee geholt?«
»Das habe ich wahrscheinlich vergessen.«
»Wo haben Sie sich den Kaffee geholt?«
»In dem Joe’s Joe am Ventura Boulevard.«
Kurlen wusste, wie man ein Verhör führt. Um seine Beute abzulenken, schlug er abrupt eine andere Richtung ein.
»Sind Sie heute Morgen an der WestLand National vorbeigegangen?«
»Nein. Ist es das, worum es hier geht?«
»Wenn
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