Microsoft Word - Eschbach, Andreas - Der letzte seiner Art.doc
wissen.«
»Verstehe.« Ich frage mich immer noch, was er wohl
verstanden zu haben geglaubt hat. Den prüfenden Blick wieder nach vorn und auf das Geschehen auf der Straße gerichtet, furchte er die Brauen. »Wenn Sie wollen, kann ich Sie hinten rauslassen.«
»Das wäre großartig.«
»Ein Problem sind allerdings Ihre Einkäufe.« Er betrachtete meinen Wagen, wohl abschätzend, ob er sich den Umsatz
entgehen lassen wollte, den ein Kompaktpaket Waschmittel, eine Flasche Himbeersirup und ein Glas Senf darstellten. »Ich könnte Sie Ihnen heute Abend nach Hause liefern lassen. Die Sachen müssen über die Scannerkasse, verstehen Sie?«
»Ich kann sie am Montag abholen«, schlug ich vor. Unter
keinen Umständen würde ich noch mehr Leuten meine Adresse verraten. Ich zupfte an meiner Umhängetasche. »Hier drin ist nur ein Postpaket.«
Er nickte widerstrebend. »In Ordnung. Kommen Sie.« Ich
folgte ihm. Es ging in den hinteren Teil des Ladens, wo er eine blau lackierte Stahltür aufschloss, die in einen kahlen, düsteren Lagerraum führte. Zwei einsame Paletten mit Klopapier
standen hier. Das geschäftige Stimmengewirr des Supermarkts erstarb, als er hinter uns absperrte. Er deutete auf ein Eck, wo ich meinen Wagen abstellen sollte. »Wir werden die Sachen am Montag für Sie bereithalten«, erklärte er. »Fragen Sie 48
einfach an der Kasse.« Ich nickte nur; das war mir im Moment völlig egal.
Jetzt erst bemerkte ich, dass sein etwas humpelnder Gang daher rührte, dass er rechts eine Beinprothese trug. Von einem diffus verwandtschaftlichen Gefühl erfüllt folgte ich ihm, vorbei an einem Büro, in dem ein alter Computer vor sich hin brummte, einen schwach beleuchteten Gang mit unebenem
Betonboden entlang, bis er mich endlich durch eine weitere Stahltür ins Freie entließ: Ich stand auf der Strand Street, mit Blick auf den Hafen und die ersten Touristenbusse des
Wochenendes.
»Vielen Dank«, sagte ich und schüttelte ihm die Hand. Ich war ihm wirklich dankbar für seine schlichte Hilfsbereitschaft.
Die meisten Iren erlebe ich so: fragen nicht viel, sondern helfen einem einfach. In diesem Augenblick wollte ich weniger denn je wieder von hier fort.
»Ich lasse Ihnen die Sachen gerne liefern, wenn Sie wollen«, wiederholte er. Es schien ihm aufrichtig daran gelegen zu sein, dass ich zu meinem Himbeersirup kam.
»Danke«, sagte ich. »Aber Montag reicht völlig.« Ein paar Gewürze hatte ich noch zu Hause, und einen Rest Zucker. Es würde schon gehen.
»Na denn«, meinte er. »Schönes Wochenende.«
Das Geräusch, mit dem die Stahltür zugezogen wurde, hatte etwas vom Klang eines zufallenden Gefängnistors.
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Die Philosophie ist keine auf die Masse berechnete Fertigkeit, mit der sich einer produzieren kann. Ihr Wesen liegt nicht im Reden, sondern im Verhalten. Sie wird auch nicht zu
angenehmem Zeitvertreib gebraucht, um in müßigen Stunden die Langeweile zu verscheuchen.
Seneca, EPISTOLAE MORALES
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Zu Hause schrieb ich meine Erlebnisse nieder und beobachtete ab und zu den Fremden, wie er den Hafen nach mir absuchte.
Vom Fenster meines Wohnzimmers aus habe ich nämlich einen guten Blick über das Hafengebiet, abgesehen von einem Teil der Anlegeplätze für kleinere Boote, auf die mir ein uralter Kahn die Sicht nimmt, der seit undenklichen Zeiten auf Kiel liegen muss, vor sich hin rostet und nur noch Seevögeln als Nistplatz dient: ein rostbraunes, schiefes Mahnmal der
Vergänglichkeit. Bei seinem Anblick frage ich mich immer unwillkürlich, wie meine Implantate nach Jahrzehnten in der Feuchtigkeit menschlichen Fleisches aussehen mögen.
An einem der größeren Kais lag ein Fischereischiff vor
Anker und lud Haie aus. Bluttriefend wurden die einzelnen Kadaver mit dem Haken des Ladekrans herausgehievt, tropfend und glibberig durch die Gegend geschwenkt und schließlich von derben Männern mit lanzenartigen Werkzeugen in
Transportkästen dirigiert, die ein Gabelstapler wegfuhr, wenn sie voll waren, direkt in die Fischfabrik. Eine ganze Anzahl Zuschauer wohnte dem blutigen Spektakel bei, fotografierend und gaffend, und zwischen ihnen wanderte mein unbekannter Verfolger umher mit seinem Foto und seinen aufdringlichen Manieren.
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Und jeder, der einen Blick auf das Bild warf, schüttelte nur den Kopf. Ich musste mir keine Sorgen machen. Sagte ich mir.
Doch als ich mich vom Fenster abwandte, hatte ich trotzdem das Gefühl, meinen kargen Wänden Lebewohl sagen zu
müssen.
Das Haus, in dem ich
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