Microsoft Word - Eschbach, Andreas - Der letzte seiner Art.doc
stellen.« Eifrig zerrte er ein verstaubtes, an den Rändern vielfach eingerissenes Formular aus einer Ablage.
Allzu oft ergab sich die Notwendigkeit, nach verschollenen Sendungen zu forschen, anscheinend nicht. »Hier. Da oben tragen Sie den Absender ein und den Tag, wann es losgeschickt worden ist, in dem Feld hier machen Sie Angaben zum Inhalt, Zirkusflöhe in Ihrem Fall –«
Ich schüttelte den Kopf. »Daneben, Billy.«
Er grinste mich hilflos an. Kein schöner Anblick. Sobald dieser junge Mann einem Zahnarzt in die Hände fiel, würde er ein komplett künstliches Gebiss bekommen und irgendjemand bei seiner Krankenversicherung einen Herzanfall. Ich reichte ihm das Formular zurück. »Danke für die Mühe. Aber ich
glaube, das bringt auch nichts.«
»Vielleicht klappt es ja morgen.«
»Ja, vielleicht.«
Es wunderte mich schon gar nicht mehr, dass sie wieder da waren, als ich aus der Post kam, die Männer mit den Telefonen an den Ohren. Ich spürte ihre Blicke wie Messerstiche im Rücken, als ich die Main Street hinabging, und dass ich mir sagte, dass dieses Gefühl Einbildung sein musste, half auch nichts.
Zu Hause aß ich die letzte Dose Konzentrat, obwohl ich
keinen Hunger hatte. Aber länger als bis zwölf Uhr konnte ich sie nicht aufbewahren, und im Moment war völlig unklar,
wann ich Nachschub erhalten würde. Ich musste Reilly
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anrufen, beschloss ich, während ich die ausgekratzte Dose mit verdünnter Säure ausspülte. Heute noch, beschloss ich,
nachdem ich die Dose in den Müll geworfen hatte und wie
üblich ein paar Minuten das Wasser in den Abguss laufen ließ, damit die Säure die Rohrleitungen verschonte.
Aber noch war es zu früh am Morgen in Washington, D. C., der Hauptstadt meines mächtigen Heimatlandes. Ich nutzte die Zeit, um nachzulesen, was Seneca über die Zeit sagt. Dass uns nämlich nicht zu wenig Zeit im Leben gegeben ist, sondern dass wir in Wahrheit nur zu viel davon vergeuden. Er
gebraucht den Vergleich mit einem königlichen Schatz, der, wenn er in die Hände eines Verschwenders gerät, ihm
zwischen den Fingern zerrinnt, während ein mäßiger Besitz in der Hut eines guten Verwalters reichlich Zinsen tragen kann.
Das war wieder eine der Stellen, die mir das Buch in der Hand schwer werden lassen. Ich ließ es sinken und starrte die Wand an und fühlte mich gemeint. Als Junge bin ich groß und stark und gesund gewesen. Groß bin ich immer noch, stark bin ich in geradezu übermenschlichem Maß, aber ich bin dafür zum Krüppel geworden. Ich betrachtete meine rechte Hand und versuchte mir vorzustellen, dass die Knochen, die einst darin waren, längst vermodert sind, verrottet in irgendeinem Haufen medizinischen Abfalls. Aber zum Glück reicht meine
Vorstellungskraft nicht so weit.
Ich musste an Dr. O'Shea denken. Wie es ihn fasziniert hatte, meinen Körper zu untersuchen. Wie sich Grauen und
Begeisterung auf seinem Gesicht abgewechselt hatten, während er die ersten Röntgenbilder von mir studierte. Nun war er tot, gestorben eben dieser Bilder wegen, wie es aussah.
Meinetwegen also. Es war mein Fehler gewesen, ihn überhaupt in diese Sache hineinzuziehen.
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Ich hatte damals mehrere Wochen lang versucht, mit
meinem unversehens steif gewordenen Ringfinger zu leben, aber es war mit jedem Tag beschwerlicher geworden. Es
musste etwas geschehen, und möglichst etwas, das keinen
Rücktransport ins Steel Man Hospital einschloss.
Obwohl mir klar war, dass es im Grunde ein technisches
Problem war, fragte ich Mrs Brannigan nach einem Arzt. Sie nannte mir Dr. O'Shea, fügte aber mit pikiertem
Gesichtsausdruck hinzu, es gebe da allerdings Gerüchte... Als ich nachhakte, erzählte sie mir, dass man dem Arzt zahlreiche heimliche Affären nachsagte, und versicherte mir, sie wisse aus zuverlässiger Quelle, dass das keineswegs nur üble Nachrede sei.
Ich glaube, das gab den Ausschlag. Ein Mann, der
Geheimnisse zu wahren verstand. Ich beschloss, es zu riskieren.
An einem der folgenden Abends passte ich einen Moment
ab, in dem er allein in der Praxis war. Er war nicht begeistert, so spät noch gestört zu werden, aber er betastete meinen Finger, und man konnte förmlich sehen, wie die Buchhaltung auf einmal unwichtig wurde. »Das fühlt sich ausgesprochen seltsam an«, sagte er. »Was genau haben Sie eigentlich
gemacht?«
Worauf ich fragte: »Was genau umfasst eigentlich die
ärztliche Schweigepflicht?« So hatte alles angefangen.
Und nun war es zu Ende.
Wir
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