Microsoft Word - Eschbach, Andreas - Der letzte seiner Art.doc
verschwenden unser Leben, weil wir glauben, wir
würden ewig leben, sagt Seneca. Deshalb ist uns der einzelne Tag nichts wert; stattdessen richten wir den Blick immer auf entfernte, künftige Ziele, vertrösten uns auf das, was eines schönen Tages kommen soll, und bestehlen so die Gegenwart, 159
die doch die einzige Wirklichkeit ist. Den allergrößten Verlust an Lebenszeit, schreibt er, bringt das Hinausschieben mit sich...
Mit seltener Klarheit wurde mir bewusst, dass es genau das war, was ich gerade tat. Das Buch klappte wie von selber zu, meine Hand legte es wie von selbst beiseite, ich stand auf, erfüllt von einer Entschlossenheit, die sich wunderbar kraftvoll, wütend und lebendig anfühlte, ging ans Telefon und wählte die Nummer von Reillys Büro. Eine Sekretärin stellte mich durch, und Reilly war hörbar überrascht, meine Stimme zu
vernehmen. »Duane? Sie? Am frühen Morgen?«
»Hier ist es zwölf Uhr mittags«, sagte ich kühl. »Ich war schon auf der Post, allerdings vergebens, und das bereits zum zweiten Mal. Und da dachte ich, ich rufe besser an und frage, ob es Probleme mit dem Versand der Nahrungskonzentrate
gibt.«
Einen Moment herrschte Stille. »Nicht dass ich wüsste«,
meinte Reilly nach einer Weile schlaff. »Mir liegt nichts vor.«
»Könnten Sie sich vergewissern? Die Lieferung hätte
Dienstag kommen müssen, heute ist Donnerstag, und sie ist immer noch nicht da.«
»Unangenehme Sache. Aber ich schätze, auf diese
Entfernung kann das schon mal vorkommen.«
Er klang, als sei er plötzlich zu einer knochenlosen Masse zusammengesunken. Er klang, als interessiere ihn das nicht die Bohne.
»Auf diese Entfernung?«, wiederholte ich. Möglich, dass meine Stimme einen eher unentspannten Tonfall annahm.
»George, was reden Sie da? Ich denke, da ist dieser teure Paketdienst im Spiel, der immer pünktlich liefert? Was ist aus dem geworden? Ist er pleite? Hat er die Zusammenarbeit mit 160
der irischen Post gekündigt? Zwei Tage Verspätung, ich bitte Sie. Ich lebe doch nicht auf Madagaskar.«
»Ja, ja. Ehrlich gesagt, ich habe im Moment keine Ahnung.
Aber wenn Sie wollen, werde ich mich erkundigen.«
»Ja«, sagte ich. »Will ich.«
»Wäre es nicht besser, Sie kämen einfach in die Staaten
zurück? Ich könnte Ihnen bis heute Abend eine Maschine
schicken, die Sie –«
»Das ist gut gemeint«, entgegnete ich, ohne nachzudenken,
»aber im Moment darf ich die Stadt nicht verlassen.« Fuck!, dachte ich noch in derselben Sekunde.
Das brachte immerhin das Adrenalin in Reillys Stimme
zurück. »Was erzählen Sie mir da?«
Ich atmete tief durch. »Es hat einen zweiten Mord gegeben.
Und der ermittelnde Inspector hält mich für einen wichtigen Zeugen.«
»Ein Zeuge? Sie?«
»Er wird demnächst feststellen, dass er sich irrt.«
Reilly gab ein schnaubendes Geräusch von sich. »Das ist
doch schwule Scheiße, Mann. Unter keinen Umständen treten Sie mir vor irgendeinem Gericht als Zeuge auf!«
»Das wird nicht passieren«, sagte ich. Manchmal reicht es, dem alten Reilly etwas oft genug zu sagen, damit er es glaubt.
»Goddammit, Duane«, brodelte er, »was wird das heute für ein Scheißtag? Erst rammt mich auf dem Weg ins Büro beinahe so ein gottverdammter Schwanzlutscher mit seinem
gottverdammten Truck, und jetzt erzählen Sie mir, dass Sie Zeuge in einem Mordfall sind?«
»Ich habe nichts gesehen, ich weiß nichts. Ich bin kein
Zeuge. Der Inspector greift bloß gerade nach jedem
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Strohhalm.« Ich fühlte Ärger in mir aufwallen. »Und das ist wirklich nicht das Problem, das mich beschäftigt, George. Das Problem, das mich beschäftigt, ist das Ausbleiben der
Nahrungskonzentrate. Deswegen rufe ich an.«
»Schon gut, schon gut. Ich kümmere mich darum.« Er schien sich etwas aufzuschreiben und fing dann wieder an. »Wieso weiß ich nichts von einem zweiten Mord? Goddammit,
erzählen Sie schon, Duane! Was verdammt noch mal ist da bei Ihnen los?«
»Es ist ein Arzt hier in der Stadt. Sie sagen, es sieht aus, als habe ein Junkie nach Stoff gesucht.« In Washington war das Alltag und keine Erwähnung in den Lokalnachrichten wert. Ich konnte förmlich spüren, wie Reillys Interesse erlosch, und damit sich das nicht auf mein Anliegen übertrug, schob ich nach »Und was meinen Stoff anbelangt...«
»Ich habe gesagt, ich kümmere mich darum, Duane«, sagte
Reilly genervt. »Ich melde mich, sobald ich was weiß.«
»Mir wäre es lieber, Sie würden als Allererstes ein
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