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Microsoft Word - Pelzer, Dave - Der verlorene Sohn.doc

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Titel: Microsoft Word - Pelzer, Dave - Der verlorene Sohn.doc Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: jojox
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zurückholen!«
    Als sie hörte, wie Tante Mary in der Küche den Hörer auflegte, ließ Mutter meinen Arm los und stieß mich 53

    fort. Ich setzte mich aufs Sofa zurück und sah zu, wie meine Retterin ins Wohnzimmer zurückkam und sich neben mich setzte. »Tut mir Leid«, sagte Tante Mary.
    Mutter zwinkerte mit den Augen und machte eine weg-wischende Handbewegung. Plötzlich wurde sie herr-schaftlich. Sie bekam Oberwasser. »Was denn? Ach, das Telefon? Keine Ursache. Ich muss ... ich meine, wir müssen ohnehin gehen.«

    Ich warf einen verstohlenen Blick auf meine Brüder.
    Ihr Augenausdruck war hart und starr. Ich fragte mich, was sie wohl von mir dachten. Außer Kevin, der noch ein Kleinkind war, sahen die anderen drei so aus, als würden sie mich am liebsten rauswerfen und auf mir rumtrampeln. Ich wusste, dass sie mich hassten, und hatte das Gefühl, als würde ich ihren Hass verdienen.
    Denn ich hatte ja das Familiengeheimnis verraten.
    Ich versuchte mir vorzustellen, wie es jetzt wohl für sie war, mit Mutter zusammenzuleben. Ich betete, meine Brüder sollten mir irgendwie vergeben. Ich fühlte mich wie ein Deserteur. Ich betete auch, dass sich der Kreislauf des Hasses noch nicht auf einen von ihnen weiterverlagert hätte. Sie taten mir Leid. Sie mussten in der totalen Hölle leben.
    Nach einer weiteren Runde freundlicher Floskeln und nach diversen Warnungen von Mutter an Tante Mary machte sich die Familie auf den Weg. Als ich das Fahrgeräusch der Reifen von Mutters Kombiwagen auf den Steinen hörte, blieb ich am Sofa kleben. Für den 54

    Rest des Nachmittags blieb ich im Wohnzimmer sitzen.
    Ich schaukelte hin und her und wiederholte mir ständig Mutters Versprechen: »Ich werde dich zurückholen! Ich werde dich zurückholen!«
    An diesem Abend konnte ich nichts essen. Im Bett wälzte ich mich hin und her, bis ich mich mit angezogenen Knien aufsetzte. Mutter hatte Recht: Tief in meinem Herzen wusste ich, dass sie mich zurückholen würde. Ich starrte aus dem Fenster meines Zimmers. Ich konnte hören, wie der Wind durch die Baumwipfel heulte und wie sich die Zweige aneinander rieben. Ich bekam Beklemmungen

    in der Brust und weinte. In diesem Augenblick wusste ich, dass es für mich kein Entkommen gab.
    Am nächsten Tag konnte ich mich in der Schule überhaupt nicht konzentrieren. Auf dem Schulhof schlich ich wie ein Zombie herum. Später, am Nachmittag, traf ich mich in Tante Marys Haus wieder mit Ms. Gold. »David, in zwei Tagen haben wir eine Gerichtsverhandlung. Ich muss dir nur ein paar Fragen stellen, um unseren Fall eindeutig zu klären. Alles klar, mein Liebling?«, fragte sie freundlich lächelnd.
    Ich weigerte mich zu sprechen und saß stocksteif am entfernten Ende des Sofas. Ich konnte Ms. Gold nicht ansehen. Zu ihrem Entsetzen murmelte ich: »Ich glaube nicht, dass ich überhaupt etwas sagen sollte.«
    Ms. Gold bekam den Mund kaum wieder zu. Sie begann zusprechen, aber ich hob meine Hand und schnitt ihr das Wort ab. Dann widerrief ich so viele Aussagen wie möglich und behauptete, ich hätte alles nur gelogen. Ich hätte all die Probleme in unserem 55

    Haushalt verursacht. Ich erzählte ihr, ich sei die Treppe hinuntergefallen. Ich hätte mich an Türklinken gestoßen. Ich hätte mich selbst geschlagen. Ich hätte mir selbst Messerstiche beigebracht. Dann schrie ich Ms. Gold zu, meine Mama sei eine schöne, liebe Frau mit einem perfekten Blumengarten, einem perfekten Haus, einer perfekten Familie. Ich hätte wegen meiner anderen Brüder immer nur ihre Aufmerksamkeit erzwingen wollen. Und das alles sei meine Schuld gewesen.
    Ms. Gold war sprachlos. Sie rückte mir nahe und versuchte mehrfach, meine Hand zu nehmen und zu halten. Doch ich wehrte ab und stieß ihre zarten Finger beiseite.

    Sie wurde so frustriert, dass sie zu weinen anfing. Nach mehreren Stunden und vielen Anläufen hatte sie getrocknete Tränenstraßen im Gesicht, und ihre Wimperntusche war total verschmiert. »David, mein Liebling«, schniefte sie. »Ich verstehe das alles nicht.
    Warum willst du nicht mehr mit mir reden? Bitte sag's mir, Liebling.«
    Dann versuchte sie, ihre Taktik zu ändern. Sie stand auf und zeigte mit dem Finger auf mich. »Weißt du denn nicht, wie wichtig dieser Fall ist? Weißt du nicht, dass alles, worüber ich in meinem Amtszimmer rede, ein tüchtiger kleiner Junge ist, der so tapfer ist, dass er mir über seine Geheimnisse erzählt?«
    Ich durchschaute Ms. Gold und würgte sie ab. »Ich glaube nicht,

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