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Microsoft Word - Pelzer, Dave - Der verlorene Sohn.doc

Microsoft Word - Pelzer, Dave - Der verlorene Sohn.doc

Titel: Microsoft Word - Pelzer, Dave - Der verlorene Sohn.doc Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: jojox
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gewusst, dass Vater nicht kommen würde, dass er wahrscheinlich wieder in einer Bar versackt war. Er schaffte es nie, seine Besuchstermine einzuhalten. Aber ich hatte mir immer eingeredet, dass es diesmal ganz bestimmt anders sein werde, dass Vater heute wirklich kommen würde und dass wir eine wunderschöne Zeit gemeinsam verbringen würden.
    Ich konnte die Realitäten meines Lebens einfach nicht akzeptieren. Wie, in Gottes Namen, konnte ich es nur so weit kommen lassen? fragte ich mich. Und als ich so dastand und aus dem Wohnzimmerfenster starrte, wusste ich, dass ich mich wieder mal einen Tag lang verkriechen würde - und zwar an dem einzigen Ort, der mir Sicherheit und Wärme bot: unter meiner Bettdecke.
    Ich sah zu Rudy auf und dann zu Lilian. Ich wollte den beiden sagen, wie sehr mir alles Leid tue und wie 138

    schlecht ich mich innerlich fühlte. Ich öffnete den Mund.
    Doch noch ehe ich die Worte sagen konnte, wandte ich mich ab. Als ich in mein Zimmer marschierte, konnte ich hören, wie Rudy Lilian zuflüsterte: »Ich glaube, da haben wir noch ein ernstes Problem vor uns.«

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6. KAPITEL
Der Trotzige

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    Einige Wochen bevor ich in die sechste Klasse kam, begann ich, meine Gefühle auszuschalten. Inzwischen war ich völlig gefühlsarm geworden. Das Auf und Ab meines neuen Lebens, das dem Auf und Ab einer Wippe glich, ging mir längst auf den Geist. Obenauf war ich, wenn ich im hellen Sommersonnenschein spielte und mich großartig fühlte. Ganz unten war ich, wenn ich Angst davor hatte, von anderen Kindern gehänselt zu werden, oder wenn ich wie ein dressierter Hund auf den recht unwahrscheinlichen Fall warten musste, dass Vater zu Besuch kam. Ich spürte genau, dass in meinem Innern eine Veränderung vor sich ging, die mich erkalten ließ. Aber es war mir egal. Ich sagte mir nur, dass ich, um überleben zu können, selbst hart werden müsse - so hart, dass ich nie wieder jemandem gestatten würde, mich zu verletzen.
    Manchmal fuhr ich statt in den Park zum Supermarkt, um mir mit gestohlenen Zuckerstangen die Taschen vollzustopfen. Eigentlich wollte ich all diese Süßigkeiten gar nicht haben; ich wusste, dass ich sie niemals alle essen konnte. Ich stahl nur, um zu testen, ob ich damit durchkommen würde. Immer schon den nächsten Schritt vorauszuplanen fand ich äußerst spannend. Zu diesem Kick kam noch das geradezu wollüstige Gefühl hinzu, wieder
    mal aus dem Laden zu schlendern, ohne ertappt worden zu sein. Manchmal stahl ich zwei- oder dreimal am selben Tag im selben Laden. Und alles, was ich nicht in Mrs. Catanzes Haus schmuggeln konnte, 141

    schenkte ich den Kindern im Park. Oder ich ließ einfach direkt vor dem Ladeneingang kleine Häufchen meiner Beute liegen.
    Als mir das Mitgehenlassen von Süßigkeiten zu langweilig wurde, erhöhte ich das Risiko und stahl größere Gegenstände - zum Beispiel Modellautos und -
    flugzeuge. Ich wurde sogar dermaßen arrogant, dass ich mehrmals einfach in den Laden marschierte, mir ein sehr großes Modell schnappte und einfach wieder hinausging - alles in weniger als einer Minute. Einige Kinder aus der Nachbarschaft, die davon gehört hatten, dass ich Süßigkeiten verschenkte, folgten mir zum Laden und beobachteten mich. Ich sonnte mich im Glanz dieser Aufmerksamkeit. Schließlich war es so weit gekommen, dass die Kinder mir als Mutprobe auferlegten, ihnen bestimmte Dinge zu stehlen. Doch meine einzige Sorge galt dem Wunsch, anerkannt zu werden. Es war fast so wie damals bei Tante Mary, als ich mit den jüngeren Pflegekindern spielte. Es tat mir ja innerlich so gut, wenn mich die anderen Kinder beim Namen riefen oder grüßten, wenn ich mit dem Rad zum Spielplatz im Park fuhr. Kurz, ich bekam wieder dieselbe Aufmerksamkeit wie damals bei Tante Mary.
    Wann immer ich beschlossen hatte, etwas Wertvolles zu stehlen, konzentrierte ich mich total darauf. Bevor ich zur Tat schritt, stellte ich mir jeden Gang zwischen den Regalen sowie die gesamte Aufstellung der Spielwaren bildlich vor und entwarf primäre sowie alternative Fluchtwege. Für den Fall, dass ich erwischt werden sollte, sah Plan Nummer
    eins eine spontane Ausrede vor, während Plan Nummer zwei einfach bedeutete, dass ich so schnell wie möglich weglief.

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    Einmal, als eine ganze Gruppe von Kindern vor dem Laden wartete, schaltete ich abermals mein Selbst aus und wurde zum Cyborg - halb Mensch, halb Maschine.
    Meine Mission: zupacken und gehen. Johnny Jones wollte ein Modellflugzeug des

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