Microsoft Word - Pelzer, Dave - Der verlorene Sohn.doc
Erziehungsdefizite aufweisen. Kinder mit Schwierigkeiten beim Erlernen grundlegender Fertigkeiten sollten speziellen Förderunterricht erhalten, um diese Schwächen oder Defizite auszugleichen.
Es hieß auch, die Lehrer sollten darauf achten, dass bei diesen Schülern mit emotionalen Sorgen und Problemen zu rechnen sei. Denn einige Familien brächten Schulkinder hervor, die das Durcheinander aus ihren Familien mit in den Schulunterricht trügen.
Solche Konfusionen zeigten sich etwa in gestörtem Sozialverhalten auf dem Schulhof oder in Lernschwierigkeiten im Klassenraum.
Ferner waren wir Lehrer so umsichtig, wie wir sein konnten, wenn es um die Zusammenarbeit mit den Eltern dieser Kinder ging. Aber das war eben zwei Jahrzehnte, bevor David Pelzer sein Buch Sie nannten mich >Es< veröffentlichte (und Jane Smiley ihr Tausend Morgen und Susan Griffin ihr Chorus of Stones). Wir wussten nicht allzu viel und wurden auch davor gewarnt, allzu viel wissen zu wollen - aus Angst, der Einmischung in familiäre Angelegenheiten beschuldigt zu werden.
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In der Sicht der siebziger Jahre galt die Unterbringung in Pflegefamilien als sozial nicht akzeptabel. Wenn ein Kind in eine Pflegefamilie kam, hieß das so viel wie, dass etwas absolut nicht stimmte - ein komplettes Versagen der Eltern. Mit solchem Versagen wollte sich die Gesellschaft aber nicht auseinander setzen - selbst dann nicht, wenn drastische Einzelheiten aus dem Familienleben bekannt wurden. Darum wurde die Institution der Pflegefamilien zu etwas sehr Negativem verdreht. Pflegefamilien - Eltern wie Kinder - galten als Menschen zweiter Klasse. Diese Verdrehungen gingen sogar so weit, dass man glaubte, Pflegekinder hätten irgendetwas Schlimmes getan - im Unterschied etwa zu Waisenkindern, die als unschuldige Opfer galten. Es hat sehr lange gedauert - und dieser Prozess dauert immer noch an -, bis man sich ein zutreffendes Bild davon machte, was Pflegefamilien und Pflegeeltern leisten können.
Heute wird öffentlich über die Dynamik der Kindererziehung, über dysfunktionale Familien und über die direkten Auswirkungen liebloser Kindererziehung und von Kindsmisshandlungen gesprochen. Die psychologische und erziehungswissenschaftliche Forschung widmet sich diesen Themen. Lehrer und Betreuer werden so ausgebildet, dass sie damit umgehen können, dass sie testen, bewerten und einschreiten können.
Ich gebe jetzt seit zwölf Jahren Förderunterricht.
Dabei sind mir sowohl Lernschwächen begegnet als auch Lernverzögerungen in bestimmten Bereichen. Ein nachhaltig gestörtes Familienleben und
Kindsmisshandlungen könnenschreckliche emotionale Störungen und Lernbehinderungen zur Folge haben.
Ich habe erlebt, wie Schüler stahlen, um 295
Aufmerksamkeit zu erregen, oder wie sie Laden und Kücheneinrichtungen zerstörten, um sich an der Gesellschaft zu revanchieren - und aus dieser »Kunst«
komplexe Lustgefühle abzuleiten. Solche Schüler sind einfach nicht in der Lage, sich sozial zurückzuhalten, und sie setzen ihren Mitschülern und Lehrern so lange zu, bis diese reagieren.
Die Behinderung durch elterliches Versagen verursacht Störungen in der geistigen und sozialen Entwicklung eines Kindes mit größerer
Wahrscheinlichkeit als etwa eine Körperbehinderung.
Ein Kind, das unter Legasthenie leidet, aber von seinen Eltern gefördert wird, erlernt das Lesen möglicherweise schwerer und später als andere, aber es hat meiner Meinung nach trotzdem bessere Chancen, im Leben erfolgreich zu sein, als ein misshandeltes Kind ohne Leseschwäche oder eine andere punktuelle Behinderung.
David Pelzer ist eine Ausnahme. Obwohl ich über ihn nur wusste, dass er aus unglaublich schlimmen Familienverhältnissen kam, war mir sehr deutlich, dass er ein extremer Individualist war. Im Unterricht war er nicht so wendig wie andere, sondern in seinem Bewegungsspielraum sehr eingeschränkt. Ich kannte ihn recht gut, weil er ein sehr fordernder Schüler war, der seine Fragen hartnäckig wiederholte und unbedingt eine Antwort haben wollte. Kein anderer Schüler und keine andere Schülerin auf der High School blieb nach dem Unterricht noch da und setzte sich sogar auf mein Pult, um Aufmerksamkeit zu erlangen. David sorgte dafür, dass man ihn nicht übersehen konnte. Viele Schüler besuchen ihre Lehrer ja einfach aus Freundlichkeit, doch David agierte zielgerichteter, und durch seine Haltung und Pose forderte er Beachtung.
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David ist - auch heute noch, nach mehr als zwei Jahr
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