Middlesex
sah, fielen ihr die ausgebombten Gebäude weniger auf als die Straßencafes, die Brunnen, die wohl erzogenen Stadt hündchen.
Zwei Samstage zuvor hatte sie gesehen, wie Antwerpen und Brüssel von den Alliierten befreit wurden. Und nun, als die Aufmerksamkeit sich auf Japan richtete, änderte sich die Szenerie. Palmen wuchsen in den Wochenschauen empor, und Tropeninseln. An diesem Nachmittag zeigte die Leinwand das Datum »Oktober 1944«, und der Sprecher verkündete: Amerikanische Truppen bereiten sich auf die letzte Pazifik- Invasion vor, und General Douglas MacArthur, entschlossen, das versprochene »Ich werde zurückkehren« einzulösen, inspiziert seine Truppen. Das Archivmaterial präsentierte Matrosen, die an Deck stillstanden oder Kanonen mit Artilleriegranaten luden oder an einem Strand herumtollten und den Menschen in der Heimat zuwinkten. Und da im Publikum merkte meine Mutter, dass sie etwas Verrücktes tat. Sie hielt Ausschau nach Miltons Gesicht.
Aber er war ja auch ihr Cousin zweiten Grades, oder? Da war es nur natürlich, dass sie sich Sorgen um ihn machte. Auch war zwischen ihnen, na ja, nicht gerade Verliebtheit gewesen, dafür aber etwas Unreiferes, Vernarrtheit vielleicht oder Verknalltsein. Nicht zu vergleichen mit dem, was sie mit Michael verband. Tes-sie setzte sich auf ihrem Sitz auf. Sie rückte ihre Handtasche auf dem Schoß zurecht. Sie saß aufrecht wie eine junge Dame, die sich verlobt hatte. Aber als die Wochenschau zu Ende war und der Film anfing, vergaß sie das Erwachsensein. Sie sank in ihren Sitz zurück und legte die Füße auf die Lehne vor ihr.
Vielleicht war es an dem Tag kein sehr guter Film, vielleicht hatte sie auch in letzter Zeit zu viele Filme gesehen - an den vergangenen acht Samstagen war sie immer im Kino gewesen -, aber woran es auch lag, Tessie konnte sich nicht konzentrieren. Immerzu musste sie denken, dass, wenn Milton etwas zustieße, wenn er verwundet würde oder, Gott behüte, überhaupt nicht zurückkäme, es dann irgendwie ihre Schuld wäre. Sie hatte ihm nicht gesagt, er solle zur Navy gehen. Hätte er sie gefragt, sie hätte nein gesagt. Doch sie wusste, er hatte es ihretwegen getan. Es war ein bisschen wie in Into the Sands mit Claude Barron, den sie einige Wochen zuvor gesehen hatte. In dem Film geht Claude Barron zur Fremdenlegion, weil Rita Carrol einen anderen heiratet. Der andere erweist sich als Betrüger und Trinker, und so verlässt sie ihn und reist in die Wüste, wo Claude Barron gegen die Araber kämpft. Als Rita ankommt, ist er im Lazarett, verwundet, ein richtiges Lazarett ist es eigentlich gar nicht, sondern bloß ein Zelt, und sie sagt ihm, dass sie ihn liebt, und Claude Barron antwortet: »Ich bin in die Wüste gegangen, um dich zu vergessen. Aber der Sand hatte die Farbe deines Haars. Der Wüstenhimmel hatte die Farbe deiner Augen. Überall, wohin ich ging, warst immer nur du.« Und dann stirbt er. Tessie heulte wie ein Schlosshund. Ihre Wimperntusche zerlief, beschmutzte ziemlich schlimm den Kragen ihrer Bluse.
Nachts der Drill und samstags die Matinee, über Bord springen und in Kinositze zurücksinken, sich sorgen und bereuen und hoffen und vergessen wollen - dennoch wurden, um ganz ehrlich zu sein, während des Krieges am meisten Briefe geschrieben. Zur Untermauerung meiner persönlichen Überzeugung, dass das wirkliche Leben an das Schreiben darüber nicht heranreicht, verbrachten die Mitglieder meiner Familie in dem Jahr anscheinend die meiste Zeit mit Briefeschreiben. Michael Antoniou schrieb zweimal die Woche vom Heilig-Kreuz-Kolleg an seine Verlobte. Seine Briefe trafen in hellblauen Umschlägen ein, in dessen obere linke Ecke der Kopf des Patriarchen Benjamin eingeprägt war, und auf dem Briefpapier war seine Handschrift, wie seine Stimme, feminin und rein. »Sehr wahrscheinlich werden sie uns nach meiner Ordinierung irgendwohin nach Griechenland schicken.
Da wird viel Aufbauarbeit notwendig sein, jetzt, wo die Nazis weg sind.«
An ihrem Schreibtisch unter den Shakespeare-Buchstützen schrieb Tessie getreulich, wenn auch nicht ganz wahrheitsgemäß zurück. Die meisten ihrer täglichen Verrichtungen schienen nicht tugendhaft genug zu sein, um sie einem Seminaristen-Verlobten zu erzählen. Und so begann sie, sich ein angemesseneres Leben zurechtzulegen. »Heute Morgen haben Zo und ich beim Roten Kreuz Freiwilligendienst geleistet«, schrieb meine Mutter, die den ganzen Tag Schokoladenplätzchen knabbernd im Fox-Kino gewesen
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