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Middlesex

Middlesex

Titel: Middlesex Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jeffrey Eugenides
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Christophorus war ein Riese. Er hatte einen Stock und durchquerte einen reißenden Fluss. Auf seinem Rücken saß das Christuskind, das schwerste Baby der Geschichte, weil es die Welt in Händen hielt. Welcher Heilige war da besser geeignet, ihren Sohn zu schützen, in Gefahr auf See? Desdemona betete in dem düsteren, von nur einer Lampe erhellten Raum. Sie bewegte die Lippen, nannte ihre Bedingungen. »Ich möchte auch gern, falls möglich, heiliger Christophorus, dass Miltie vom Drill befreit wird. Er schreibt mir, dass der sehr gefährlich ist. Er schreibt mir jetzt auch auf Griechisch, heiliger Christophorus. Nicht besonders gut, aber es reicht. Er muss mir dann auch versprechen, dass er in die Kirche neue Bänke stellt. Und wenn du willst, legt er auch Teppiche hinein.« Sie verstummte, schloss die Lider. Sie bekreuzigte sich viele Male und wartete auf eine Antwort. Dann richtete sie sich unvermittelt auf. Sie öffnete die Augen, nickte, lächelte. Sie küsste sich auf die Fingerspitzen und berührte mit ihnen das Bild des Heiligen, dann eilte sie nach Hause, um Milton die gute Nachricht zu schreiben.
    »Ja, klar«, sagte mein Vater, als er den Brief bekam. »Der heilige Christophorus, der rettet mich.« Er steckte den Brief in sein Englisch-Griechisches Wörterbuch und ging damit zum Verbrennungsofen hinter der Nissenhütte. (Damit war der Griechischunterricht meines Vaters zu Ende. Zwar sprach er weiterhin mit seinen Eltern Griechisch, aber schreiben konnte Milton es nie, und mit zunehmendem Alter vergaß er selbst die einfachsten Wörter. Zuletzt konnte er kaum mehr als Pleitegeier und ich sagen, also praktisch überhaupt nichts.)
    Miltons Sarkasmus war unter den gegebenen Umständen verständlich. Erst am Vortag hatte sein Kompaniechef ihm für die bevorstehende Invasion einen neuen Auftrag zugewiesen. Diese Nachricht war ihm, wie jede schlechte Nachricht, zunächst nicht ins Bewusstsein gedrungen. Es war, als wären die Worte des Kompaniechefs, die Silben, die er an Milton richtete, von den Jungs beim Nachrichtendienst zerhackt worden. Milton hatte gegrüßt und war hinausgegangen. Noch immer unberührt, war er zum Strand geschlendert, die schlechte Nachricht benahm sich gewissermaßen diskret, gestattete ihm seine letzten friedlichen Augenblicke der Selbsttäuschung. Er betrachtete den Sonnenuntergang. Er bewunderte eine neutrale Schweiz aus Seehunden draußen auf den Felsen. Er zog die Stiefel aus, um den Sand an den Füßen zu spüren, als wäre die Welt ein Ort, an dem er erst jetzt anfing zu leben, und nicht ein anderer, den er bald verlassen würde. Aber dann zeigten sich Risse. Ein Sprung in seinem Schädel, durch den die schlechte Nachricht zischend hineinströmte, eine Furche in den Knien, die einknickten, und plötzlich konnte Milton die Nachricht nicht mehr draußen halten.
    Achtunddreißig Sekunden. Das war die Nachricht.
    »Stephanides, wir machen Sie zum Signalgast. Melden Sie sich morgen früh um sieben Uhr im Gebäude B. Wegtreten.« Das hatte der Kompaniechef gesagt. Nur das. Eigentlich war es gar keine Überraschung. Je näher die Invasion heranrückte, waren Verletzungen bei Signalgasten sprunghaft angestiegen. Signalgasten hatten sich beim Küchendienst Finger abgehackt. Signalgasten hatten sich beim Waffenreinigen in den Fuß geschossen. Bei Nachtübungen hatten sich Signalgasten lustvoll gegen die Klippen geworfen.
    Achtunddreißig Sekunden war die Lebenserwartung eines Signalgasts. Während der Landung würde Matrose Stephanides ganz vorn im Boot stehen. Er würde eine Art Laterne bedienen, Signale im Morsecode senden. Diese Laterne würde hell sein, deutlich sichtbar für die feindlichen Stellungen an Land. Daran dachte er, als er mit nackten Füßen am Strand stand. Er dachte, er würde nie die Bar seines Vaters übernehmen. Er dachte, er würde nie mehr Tessie sehen. Stattdessen würde er wenige Wochen später in einem Boot stehen, dem feindlichen Feuer ausgesetzt, ein helles Licht in der Hand. Eine kleine Weile wenigstens.
    Nicht enthalten in den Weltnachrichten: ein Schnappschuss des AKA-Truppentransporters mit meinem Vater beim Verlassen des Marinestützpunkts Coronado in Richtung Westen. In den Esquire-Lichtspielen sieht Tessie Zizmo, die Füße vom klebrigen Boden fern haltend, weiße Pfeile über den Pazifik sausen. Die Zwölfte Flotte der US-Navy stößt bei ihrer Invasion auf dem Pazifik vor, sagt der Sprecher. Endziel: Japan. Ein Pfeil geht von Australien aus, durchquert

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