Middlesex
Neuguinea Richtung Philippinen. Ein anderer Pfeil schießt von den Salomon-Inseln, ein weiterer von den Marianen heran. Tessie hat von diesen Orten vorher nie gehört. Nun aber ziehen die Pfeile weiter, rücken auf andere Inseln vor, von denen sie nie gehört hat - Iwo Jima, Okinawa -, jede mit der aufgehenden Sonne beflaggt. Die Pfeile vereinigen sich aus drei Richtungen über Japan, was selbst auch nur ein Inselhaufen ist. Während Tessie sich die Geographie einprägt, zeigt die Wochenschau nun Archivmaterial. Eine Hand kurbelt an einer Alarmglocke; Matrosen springen aus Kojen, hasten zwei Stufen auf einmal die Treppe hinauf, nehmen ihre Gefechtsposition ein. Und dann ist da - Milton, wie er über ein Schiffsdeck rennt! Tessie erkennt seine schmale Brust, seine Waschbäraugen. Sie vergisst den Fußboden und stellt die Füße darauf. In der Wochenschau feuern die Kanonen des Zerstörers geräuschlos, doch auf der anderen Seite der Erde, in der Eleganz eines altmodischen Kinos, spürt Tessie Zizmo den Rückstoß. Das Kino ist ungefähr halb voll, es sind zumeist junge Frauen wie sie. Auch sie naschen aus emotionalen Gründen Süßigkeiten; auch sie suchen die körnige Wochenschau nach Gesichtern von Verlobten ab. Die Luft riecht nach Tootsie Pops und Parfüm und nach der Zigarette, die die Platzanweiserin am Eingang raucht. Meist bleibt der Krieg abstrakt, ein Ereignis, das irgendwo anders passiert. Nur hier, eingezwängt zwischen dem Zeichentrickfilm und dem Hauptfilm, wird er für vier, fünf Minuten konkret. Vielleicht wirken die verschwimmenden Identitäten, das Einswerden mit der Masse auf Tessie ein, erzeugen eine Art Hysterie, wie Sinatra sie auslöst. In der Schlafzimmerbeleuchtung des Kinos jedenfalls gestattet sich Tessie Zizmo die Erinnerung an Dinge, die sie eigentlich vergessen wollte: an eine Klarinette, die sich mit einer ganz eigenen drängenden Macht ihr nacktes Bein hinauftastet, einem Pfeil zu ihrem Inselreich folgt, das sie, wie sie in diesem Augenblick erkennt, bald dem falschen Mann übergeben wird. Während der flackernde Strahl des Filmprojektors über ihren Kopf hinweg das Dunkel durchschneidet, gesteht sich Tessie ein, dass sie Michael Antoniou nicht heiraten will. Sie will keine Priesterfrau sein, nicht nach Griechenland ziehen. Auf Milton in der Wochenschau blickend, treten ihr Tränen in die Augen, und sie sagt laut: »Überall, wohin ich ging, warst immer nur du.«
Und während sie das Pst! der Leute hört, tritt der Matrose in der Wochenschau auf die Kamera zu - und Tessie erkennt, dass es gar nicht Milton ist. Aber das macht nichts. Sie hat gesehen, was sie gesehen hat. Sie steht auf und geht.
Am selben Nachmittag lag Desdemona in der Hurlbut Street im Bett. Sie lag dort, seit der Postbote drei Tage zuvor einen weiteren Brief von Milton gebracht hatte. Der Brief war nicht auf Griechisch, sondern auf Englisch, und Lefty musste ihn übersetzen:
Ihr Lieben, dies ist der letzte Brief, den ich euch schicken kann. (Entschuldige, Ma, dass ich ihn nicht in der Muttersprache schreibe, aber ich habe im Moment einiges zu tun.) Die da oben lassen mich nicht viel darüber sagen, was hier gerade los ist, aber ich wollte euch nur schnell diese Zeilen schreiben und euch bitten, dass ihr euch um mich keine Sorgen macht. Ich gehe einem sicheren Ort entgegen. Halte die Bar in Ordnung, Paps. Eines Tages ist dieser Krieg vorbei, dann möchte ich in den Familienbetrieb. Sagt Zo, sie hat in meinem Zimmer nichts zu suchen.
Von Herzen ohne Schmerzen, Milt Anders als die Briefe davor traf dieser unversehrt ein. Ohne ein einziges Loch. Zunächst hatte das Desdemona aufgemuntert, bis ihr klar wurde, was es bedeutete. Geheimhaltung war nicht mehr nötig. Die Invasion war schon im Gang.
Da erhob sich Desdemona vom Küchentisch und gab mit einem Blick triumphaler Traurigkeit eine ernste Erklärung ab:
»Gott hat das Urteil über uns gefällt, das wir verdienen«, sagte sie.
Sie ging ins Wohnzimmer, rückte im Vorbeigehen ein Sofakissen zurecht und stieg die Treppe zum Schlafraum hinauf. Dort entkleidete sie sich und zog das Nachthemd an, obwohl es erst zehn Uhr vormittags war. Und zum ersten Mal, seit sie mit Zoe schwanger war, und zum letzten Mal, bevor sie sich fünfundzwanzig Jahre später für immer hineinlegte, floh meine Großmutter ins Bett.
Drei Tage war sie dort geblieben und nur aufgestanden, um auf die Toilette zu gehen. Vergeblich hatte mein Großvater auf sie eingeredet, doch herauszukommen.
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